Michael Wackerbauer
Ernst Kutzer zum 80. Geburtstag
Der Titel des in der Überschrift zitierten Chorwerks von 1977 ist programmatisch für den größten Teil des erstaunlich umfangreichen Œuvres des Jubilars. Ernst Kutzer, der seit 1966 mit seiner Familie in Pentling bei Regensburg ansässig ist, verbrachte den überwiegenden Teil seines Lebens in der Oberpfalz. Hier besuchte er die Schule, hier wurde er an der Lehrerbildungsanstalt in Amberg von 1931 bis 1937 auf seinen Beruf mit einer für heutige Verhältnisse sehr umfangreichen musikalischen Ausbildung vorbereitet und hier machte er seine ersten professionellen Erfahrungen als Organist und Chorleiter. Fasziniert von aller Musik, die er auf Schallplatten oder, wenn möglich, bei Konzert- und Opernbesuchen in München erleben konnte und angeregt von seinem Lehrer Max Sturm, begann er ab 1933, eigene Kompositionen zu verfassen. Damit schlug Kutzer einen Weg ein, den er neben, oder besser in enger Verbindung mit seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Volksschullehrer beschritt und bis heute konsequent verfolgt. Glück und Beharrlichkeit ermöglichten Kutzer im Kriegswinter 1941/42 eine Weiterbildung an der Musikhochschule München während eines halbjährigen Studienurlaubes. Hier lernte er Joseph Haas, einen Schüler Max Regers, als Kompositionslehrer kennen, dessen prägender Einfluß auf Kutzers Schaffen bis heute unverkennbar ist. Nach kurzer Kriegsgefangenschaft und bereits in den Schuldienst im heimatlichen Hohenthan eingesetzt, suchte Kutzer sofort wieder Anschluß an seine Kompositionsstudien: Zwischen 1946 und 1948 nahm er alle vier Wochen privaten Kompositionsunterricht bei Professor Hermann von Waltershausen in München, dessen positive Beurteilung Kutzer das Kirchenmusikstudium an der Musikhochschule ermöglichte. Bereits 1949 konnte Kutzer den Studiengang, der ihn wiederum mit dem verehrten Lehrer Joseph Haas im Fach Komposition zusammenbrachte, abschließen.
Als Volksschullehrer, Musiker und Komponist blieb Kutzer seiner ostbayerischen Heimat treu: Hohenthan, Mitterteich, Stein bei Tirschenreuth und Bad Abbach waren zwischen 1945 und 1980 die Stationen seiner pädagogischen Tätigkeit, die er nach der Pensionierung als Lehrbeauftragter für Harmonielehre an der Fachakademie für katholische Kirchenmusik in Regensburg fortsetzen konnte. Für den praktischen Musiker Kutzer erwies es sich als Glücksfall, daß er unmittelbar nach Beendigung seines Musikstudiums die Leitung des Waldsassener Kammermusikkreises übernehmen konnte. Neben zahlreichen Gastkonzerten mit renommierten Ensembles und Solisten wurde das Programm bei gemischten Kammermusikabenden und Weihnachtskonzerten durch eigene Kräfte bestritten. Zum einen ermöglichte die neue Stellung die mehrfache Aufführung von Volksoratorien des hochgeschätzten Lehrers Joseph Haas, mit dem Kutzer weiterhin in Verbindung stand, zum anderen konnten in einem qualifizierten Rahmen eigene Werke vorgestellt werden.
Kutzers Lebensweg, der hier nur kurz angedeutet werden sollte, fand in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach Darstellung in Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln (vor allem in der Monatsschrift Die Oberpfalz). Eine besonders anschauliche Präsentation desselben wurde vom 10. März bis zum 29. Mai dieses Jahres mit der Ausstellung Ernst Kutzer – ein Oberpfälzer Komponist in der Bischöflichen Zentralbibliothek geboten. In zahlreichen Vitrinen konnten in chronologischer Reihenfolge Photos, Briefe, Konzertprogramme, Tonträger und Notenmaterial, teils mit zugehörigen Skizzen betrachtet werden. Aus der Studienzeit haben sich Vorlesungsmitschriften ebenso erhalten wie ein positives Gutachten von Joseph Haas über zwei 1951 komponierte Messen für gemischten Chor a cappella. Besonders anrührend sind die alten Photos von Konzerten aus der Waldsassener Zeit, die zusammen mit den mühsam vervielfältigten Aufführungsmaterialien präsentiert wurden. Anhand mehrerer Beispiele war es möglich, den Schaffensprozeß von den stets sauber und akkurat geschriebenen Skizzen bis zur fertigen Partitur zu verfolgen. Einen Augenschmaus stellte die Vitrine zum 1991 komponierten Liederzyklus Böhmische Reise nach Texten von Ernst R. Hauschka dar, wo anhand einer großformatigen Karte aus dem 18. Jahrhundert die Lage der einzelnen musikalisch umgesetzten Stationen veranschaulicht wurde. Ausführlich wurde in den letzten Schaukästen über die aktuelleren Produktionen informiert, etwa über die Oper D’Woidrumpl, die programmatischen und kompositionstechnischen Hintergründe der Weinschenk-Suite und des Bläserquintetts Nr. 2, das sich, zur Einweihung des neuen Rathauses in Bad Abbach komponiert, thematisch auf die im Ortsnamen enthaltene Tonfolge bezieht und zu guter Letzt die Entstehungsgeschichte der Rhapsodischen Suite für symphonisches Blasorchester von 1995. Abgerundet wurde die Ausstellung durch die Möglichkeit, Ausschnitte aus Werken der letzten fünf Jahrzehnte anzuhören – ein Vergnügen, das durch die mäßige Tonqualität der Aufnahmen leider etwas getrübt wurde.
Neben der schönen Ausstellung, mit der, wie Monsignore Dr. Paul Mai bei der Eröffnungsveranstaltung betonte, die Bischöfliche Zentralbibliothek erstmals einen lebenden Tonkünstler ehrte, erhielt Ernst Kutzer bereits im vorigen Jahr ein Geschenk mit bleibendem Wert: ein Sammelband über sein Leben und Werk als 34. Folge der renommierten Reihe Komponisten in Bayern. Das bebilderte Buch hat in seiner hervorragenden Konzeption einen hohen Gebrauchswert. Eingerahmt von einer ausführlichen Biographie, die durch ein informatives Gespräch mit dem Komponisten ergänzt wird, und einem umfassenden Werkverzeichnis mit Diskographie werden die einzelnen Gattungen, derer sich Kutzer bedient, von verschiedenen Autoren an ausgewählten Beispielen abgehandelt. In einem kurzen Beitrag über die elementare Musikerziehung im Spannungsfeld zwischen Auftrag und Schulwirklichkeit äußert sich der Pädagoge Kutzer dann noch besorgt über die heutige Musiklehrerausbildung, die das praktische Musizieren der Schüler und die Pflege des Volksliedes zu sehr in den Hintergrund stelle.
Der sehr umfangreiche Werkkatalog deckt ein großes Spektrum der Instrumental- und Vokalmusik bis hin zu Oper und Musical ab. Liest man in dem Sammelband die entsprechenden Kapitel zu den einzelnen Werkgruppen, so hat man den Eindruck, es gehe nicht um ein und denselben Komponisten. Das liegt wohl in der recht pragmatischen Art und Weise begründet, mit der Kutzer seine kompositorischen Mittel wählt und einsetzt. Wichtig ist ihm in jedem Fall, daß die Zuhörer, womit er die breite Masse der Bevölkerung meint, seine Musik verstehen und somit schätzen können. Auf der anderen Seite denkt er an die Ausführenden. Kutzer hat es bis auf eine Ausnahme (Psalmentriptychon op. 102) konsequent vermieden, irgendwelche kompositionstechnischen Experimente bei seinen Vokalwerken einzugehen, da es jedem geübten Laienchor ohne große Schwierigkeiten möglich sein soll, seine Werke aufzuführen. So geht er bei seinen Chorwerken in Bezug auf Melodik und Harmonik nicht über das hinaus, was er in den vierziger Jahren bei seinen in der Spätromantik verwurzelten Lehrern Haas und Waltershausen gelernt hat. Er bleibe, wie er sagt, im wesentlichen im Tonalen, verabscheue aber nicht gewisse neue Wendungen, die aber noch im Bereich von anhörbaren Dissonanzen lägen, um beispielsweise abgedroschene Schlußbildungen zu umgehen. Lediglich in der Rhythmik läßt sich Kutzer z. B. mit jazzigen Anklängen auf modernere Wege ein. Gerade Joseph Haas, der in seinen Volksoratorien mit der Einbindung des Volksgesangs eine neue Form schuf, die sich thematisch auf das Volkslied stützt, war und ist für Kutzer, der sich selbst als Volksliedsammler betätigt hat, das prägende Vorbild. Mehr als hundert Volkslieder und fast ebenso viele Kirchenlieder habe er, wie er erzählt, in seinen Kompositionen verarbeitet. Hierauf führt Kutzer auch die große Popularität zurück, derer sich seine Liedkantaten wie die Maienkantate oder die Jägerkantate im deutschsprachigen Raum erfreuen. Volkslieder gingen auch in seine 1987 vollendete und 1993 von den städtischen Bühnen Regensburg konzertant aufgeführte Oper D’Woidrumpl ein, deren im Bayerischen Wald angesiedeltes Sujet und entsprechend volkstümliche Vertonung bewußt auf Bodenständigkeit setzt. Die Themenkreise Natur, Brauchtum und Religion stehen im Zentrum von Kutzers Werk.
Den Schwerpunkt seines kompositorischen Schaffens sieht Kutzer bei den Sololiedern, die mit etwa 40 Liederzyklen und einer Gesamtzahl von ungefähr 200 Einzelstücken einen gewichtigen Anteil am Gesamtschaffen darstellen. Um so bedauerlicher ist es, daß gerade die Besprechung dieser Werke in der ansonsten so gelungenen Monographie etwas dürftig ausfällt. Die literarische Spannweite der vertonten Texte erstreckt sich von Eichendorff über Lenau, Morgenstern und Huch bis in die Gegenwart zu Mitgliedern der Regensburger Schriftstellergruppe International, zu denen Kutzer engen Kontakt pflegt. Neben Sololiedern mit Klavier, Gitarre und Orgel findet man auch eher unkonventionelle Begleitinstrumente wie die Harfe, das Violoncello oder das Streichquartett. Kutzer orientiert sich auch hier am Publikumsgeschmack: der Hörer wolle, wie er sich ausdrückt, bei Liedern gerne etwas „Romantik“ finden. Was heute an Experimentellem geliefert werde, „packe“ der Hörer nicht, auch wenn viele Snobs im Konzertleben dies heuchelten. Sänger – da nimmt Kutzer sicherlich wieder Rücksicht auf den geübten Laien – bräuchten noch mehr als Instrumentalisten eingängige Melodien, da problematische Verläufe nicht adäquat getroffen würden. So findet man auch im Liederzyklus Lob des Weines nach Gedichten von Georg Britting op. 140 (1997) weitgeschwungene Melodielinien, die, mit einer durchsichtigen und streckenweise lautmalerisch ausgestalteten Klavierbegleitung versehen, fest in der Tonalität verankert sind.
Ein wenig anders verhält es sich mit einer Reihe von Instrumentalwerken Kutzers. Bei aller Verehrung für seine Lehrer fühlte er sich als Angehöriger einer neuen Generation verpflichtet, nach neuen Ausdrucksformen zu suchen. So besuchte Kutzer in einer Orientierungsphase die berühmten Darmstädter Ferienkurse, konnte aber der nach seiner Beurteilung „anarchistischen“ Musik, die dort propagiert wurde, nichts abgewinnen. Die Begegnung mit Herbert Eimert, dessen Lehrbücher zur Zwölftontechnik noch heute weit verbreitet sind, sollte jedoch Folgen haben. Auf der Basis der Eimertschen Lehre entwickelte Kutzer eine eigenständige Reihentechnik, die die Grundlage für eine Anzahl von zwölftönigen Werken im Zeitraum zwischen 1972 und 1983 bildete (wer sich über diesen Aspekt näher informieren möchte, sei auf Gerhard Dietels sehr instruktives Kapitel Zwölftonmusik im Schaffen Ernst Kutzers des oben genannten Sammelbands verwiesen). Kutzer verwendete die Technik, die ihre Wurzeln ursprünglich in der Atonalität hatte, durchweg undogmatisch. Bei den so entstandenen Werken, zu denen beispielsweise das Bläserquintett Nr. 1 op. 100 und das Klaviertrio op. 101 gehören, wollte Kutzer nach eigenem Bekunden bezüglich ihrer Fortschrittlichkeit einen Mittelweg gehen, der beim breiten Publikum noch Eingang findet. Er habe Konsonanzen nicht gescheut und die schlimmsten Dissonanzen vermieden. Kutzer vergleicht sein zwölftöniges Komponieren mit einem Hausbau: Nachdem eine geeignete Reihe gefunden ist, wird zunächst das Baumaterial besorgt. Es besteht aus ein- bis dreitaktigen mehrstimmigen Bausteinen, denen jeweils eine Reihenform (vertikal harmonisch bzw. horizontal melodisch) zugrunde liegt. Aus dem umfangreichen Vorrat an Bausteinen werden nun geeignete ausgewählt und unter leichten Bearbeitungen so verknüpft, daß sie in einen Fluß kommen, der vom Entstehungsprozeß aus einzelnen Tonsatzpartikeln nichts mehr erkennen läßt. Kutzer denkt heute nicht daran, zur Zwölftontechnik zurückzukehren. Zum einen hält er sie für überlebt, zum anderen empfindet er die konsequente Entwicklung seiner Modelle im nachhinein als sehr anstrengend. Er habe zudem bei aller Mühe um eine verständliche Tonsprache immer Schwierigkeiten gehabt, seine zwölftönigen Werke im Konzertleben mit Erfolg anzubieten. Im Alter werde man in vielen Dingen gemäßigt und tolerant. Wenn er etwas schreibe, dann möchte er auch gehört werden. Welche Wege Kutzer dabei beschreitet, zeigt die unlängst vom Symphonischen Blasorchester Regensburg uraufgeführte Rhapsodische Suite op. 118a, in der er unter Verwendung eigener Melodien aus seinem Musical Papa Bernd oder die Angsthasen an die Zeit vor dem Krieg anknüpft, als er für die großen Big-Bands in den Münchner Cafes schmissige Swing-Arrangements schrieb.
In die Zukunft blickend, glaubt Ernst Kutzer, daß das Musikschaffen im kommenden Jahrhundert nicht mehr so radikal sein wird wie im gegenwärtigen; man werde wieder eher versuchen, mit verständlicherer Musik das Herz der Menschen zu erreichen.
Dem freundlichen Jubilar, der dem Autor mit großer Begeisterung und Ausführlichkeit über seine Vorstellungen und Erfahrungen als Musikpädagoge, Komponist und Musiker berichtete, seien noch viele produktive Jahre gewünscht.