Juan Martin Koch
Tage Alter Musik, Pfingsten 1998
Dreieinigkeitskirche, Freitag abend, gegen zehn: Haydns fis-Moll-Symphonie geht buchstäblich ihrem Ende zu, und wie anno 1772 die Musiker der Esterházyschen Hofkapelle, verlassen die Instrumentalisten der Academy of Ancient Music im abschließenden Adagio nach und nach ihren Arbeitsplatz, bis nur noch Konzertmeister Andrew Manze und ein Mitstreiter übrig bleiben samt einem teils schmunzelnden, teils aber auch ungläubig dreinblickenden Publikum.
War dies nun einfach ein etwas platter Gag oder steckte doch die Idee dahinter, nicht nur die spieltechnischen Aufführungsbedingungen, sondern ein überliefertes historisches Ereignis in Rekonstruktion zu präsentieren? Am sympathischsten wäre wohl die dritte Möglichkeit, wenn nämlich das augenzwinkernde Eingeständnis der Unerreichbarkeit und möglichen Absurdität des sogenannten „authentischen“ Musizierens gemeint gewesen wäre. Ganz nüchtern betrachtet, war mit diesem Einfall allerdings der musikalische Spannungsbogen dieses Ausnahmewerks zerstört, den das englische Starensemble nach einem furiosen Beginn freilich schon durch den verharmlosend flott gespielten zweiten Satz aufs Spiel gesetzt hatte. Dennoch beeindruckten Flexibilität, Perfektion und Klangschönheit hier ebenso wie im ersten Programmteil mit Mozarts erster Symphonie und dem ebenfalls in Kammerorchesterbesetzung dargebotenen Septett-Divertimento KV 251.
Manze, der vom ersten Pult aus die Academy als Dirigent bemerkenswert gut im Griff hatte, bewies seine überbordende Musikalität mit einer vor allem im Sinne des konzertanten Zusammenspiels überzeugenden Interpretation von Mozarts viertem Violinkonzert. Faszinierend, wie er immer wieder feinste Schattierungen in Dynamik aber auch im Tempo gestaltete und wie ihm das Orchester dabei folgte. Nichts war hier zu spüren von der Laxheit, mit der selbst Solisten ersten Kalibers allzuoft begleitet werden. Was die Konsequenz des Vibratoeinsatzes und die Intonationssicherheit betrifft, so mußte Manze allerdings seinem Temperament und möglicherweise auch seiner Doppelbelastung einigen Tribut zollen, was sich besonders in den weniger überzeugenden, offenbar spontan aus zurechtgelegten Abschnitten zusammengesetzten Kadenzen zeigte. Insgesamt aber war dies der würdige Auftakt eines wieder einmal bemerkenswerten Wochenendes im Zeichen der Alten Musik, mit dem die Verantwortlichen nun schon zum vierzehnten Mal das Musikleben der Stadt bereicherten und das von einem auch aus vielen eigens angereisten Kennern zusammengesetzten, ebenso begeisterungs- wie kritikfähigen Publikum verfolgt wurde.
Dieses wußte etwa beim Auftritt der Formation Musica Pacifica sehr deutlich zwischen der herausragenden Biber-Darbietung der Violinistin Elisabeth Blumenstock und den übrigen Programmpunkten eines insgesamt eher enttäuschenden Konzerts zu unterscheiden, das von dem im Ensemble kaum durchzuhörenden Spiel von Judith Linsenberg (wenn sie nicht gerade zur Sopranblockflöte griff) und dem einförmig lauten Klang des Cembalos beeinträchtigt wurde.
Daß sogar eine weitere Steigerung im Geigerischen möglich war, dafür sorgten Fabio Biondi und sein Ensemble Europa Galante, deren Deutschland-Debüt zu einer Apotheose des Violinspiels wurde. Denn wer der Aufführung von sieben italienischen Concerti grossi ohne Bläserbeteiligung in der Minoritenkirche (deren Akustik schon die Bemühungen so mancher Orchester in früheren Jahren zunichte machte) mit einer gewissen Skepsis entgegengesehen hatte, wurde nicht nur eines Besseren belehrt, sondern von der Klangpracht und Sinnesfreude dieser Musik ganz einfach mitgerissen. Die Italiener setzten in diesem Repertoire einen Maßstab, der nicht nur wegen Biondis überragender Fähigkeiten als Solist derzeit kaum zu überbieten sein dürfte. Das ganze Orchester schien aus ebenbürtigen Virtuosen zu bestehen, sei es nun, daß sie in den größer besetzten Concertino-Partien mühelos die atemberaubenden Tempi ihres Primarius mitgingen oder daß sie wie ein echter Klang-Körper seine oft ungewöhnlichen und überraschenden, immer aber musikalisch gerechtfertigten Interpretationseinfälle organisch umsetzten.
Von den Aufführungen konventionellerer Art, sprich: eines gesicherten Repertoires, war dies zweifellos diejenige, die am meisten überzeugte. Auf demselben Terrain bewegte sich das Concerto Copenhagen, auch wenn es unter seinem Leiter, dem Cembalisten Lars Ulrik Mortensen, neben den bewährten Größen Händel, Telemann und Johann Sebastian Bach mit einem Cembalokonzert des weniger bekannten Johann Gottlieb Goldberg ein „unverdient in Vergessenheit geratenes Meisterwerk“ (so versicherte das Programmheft) präsentierte. Danach war man um drei Erkenntnisse reicher: Erstens gab es offenbar schon zur Mitte des 18. Jahrhunderts den Typus des virtuos-langweiligen Schlachtrosses, und es bedarf schon eines Solisten mit einem gewissen Maß an Selbstverliebtheit, um damit eine knappe halbe Stunde des Abends zu bestreiten. Zweitens ist der Neuhaussaal mit seiner gnadenlos trockenen Akustik der ideale Ort, um einem kleineren Barockorchester seine Grenzen aufzuzeigen (an diese stießen auch die Zuhörer, die dem Innenraumklima die verschwitzte Stirn boten). Drittens schließlich kann ein kleiner szenischer Auftrittseffekt Wunder wirken: Denn nachdem Susanne Rydén die brausenden Winde der Orchestereinleitung mit einem beherzten „Silete venti“ beruhigt hatte, fanden in Händels gleichnamiger Solomotette ihr makelloser, in den Alleluja-Koloraturen virtuos geführter Sopran und das Begleitensemble zu einer brillanten Darbietung zusammen.
Die Programmauswahl, die Alexander Blachly für seine Vokalisten namens Pomerium getroffen hatte, war sicher nicht als spekulativ anzusehen, und doch entfernten sich deren grandiose A-cappella-Darbietungen von Motetten aus vatikanischen Handschriften des frühen 16. Jahrhunderts nicht zuletzt durch den idealen Aufführungsort Dominikanerkirche ein Stück weit von herkömmlichen Konzertritualen. Hier war höchste Konzentration auf ein Repertoire verlangt, das seinen Reichtum und seine Vielfalt in Details der Text- und Stimmbehandlung erst beim intensiven Zuhören offenbart. Der Gesang der vierzehn Mitglieder dieses Ausnahmechores, der am folgenden Tag dasselbe Programm in der Prüfeninger Klosterkirche auf CD einspielte, war eine überwältigende Einladung dazu.
In der Nacht zuvor herrschte in derselben Kirche eine ganz andere Atmosphäre, als nämlich Stevie Wishart mit ihrer Gruppe Sinfonye und Mitglieder des Oxford Girls’ Choir aus Gesängen, Texten und Bildern eine Art Gesamtkunstwerk rund um Hildegard von Bingen zu schaffen suchten. Wer hier leicht verdauliche Kost irgendwo zwischen Mittelalter-Welle und New Age erwartete („Canticles of Ecstasy“ war vor einiger Zeit eine Hildegard-CD betitelt!), wurde enttäuscht. Vor allem aber die etwas unbeholfene Präsentation der Texte und Dias trug dazu bei, daß viele das Ende des neunzigminütigen Spektakels (natürlich ohne Pause) nicht abwarten wollten und es in der Presse z. T. hämische Kritik hagelte. Unterschätzt wurde dabei der musikalische Teil des Programms, den die Mädchen und Frauen mit engelgleichen Stimmen, aber auch mit Intensität und in den extremen Höhen angemessen expressiv gestalteten. Mit der ein- und zweistimmigen Musik dieser Zeit besser vertraut, hätte das Publikum den außergewöhnlichen Umgang Hildegards mit dem traditionellen Intervallvorrat und ihr extremes Ausloten des Tonumfangs sicher angemessener würdigen können. Hier mangelt es uns einfach an der notwendigen Hörerfahrung, für die gerade auch die Tage Alter Musik hoffentlich immer wieder sorgen werden.
Denn die große Stärke dieses zu Recht renommiertesten Regensburger Festivals dürfte insbesondere in dem Verlassen der ausgetretenen Pfade des Musikbetriebs liegen. Und so sorgten auch wieder solche Ensembles für herausragende Konzerterlebnisse, die uns mit einem undogmatischen Zugang und einem fein abgewogenen Maß historischer Vorstellungskraft die Musik aus einer Zeit näher brachten, in der es das unantastbare und in eindeutiger Überlieferung fortdauernde musikalische Kunstwerk noch nicht gab. Da führte zum einen die Boston Camerata eine von ihrem Leiter Joel Cohen aus der Welt der mittelalterlichen Tristan-Sage zusammengestellte Version der berühmten Liebesgeschichte vor, bei der mit sparsamen, aber wirkungsvollen Handlungselementen die herrlich vorgetragenen Gesänge aus dem Sagenkreis (allen voran: Anne Azéma als Isolde) mit der eindrücklichen Rezitation altfranzösischer und mittelhochdeutscher Textausschnitte (Andrea von Ramm) verbunden waren. Zum anderen feierten – ebenfalls im Reichssaal – die Mitglieder der Gruppe Artek-458 Strings ein Fest teilweise improvisierter Vokal- und Instrumentalmusik. Da wurden schon einmal zwei Nummern mit ähnlichem Baßmodell ganz wie im Jazz zu einem „Medley“ verschmolzen, da trieben drei Lautenisten in der Manier berühmterer Gitarrenkollegen (à la „Friday Night in San Francisco“) eine Nummer mitreißend auf die Spitze oder es wurde mit dem Titel Scherzi musicali ganz unernst Ernst gemacht, wenn in Monteverdis Komposition ein Zitat aus seinem Orfeo und dann sogar Schuberts Lied von der Forelle eingebaut wurden. Ähnlich gut kam offenbar der Auftritt des Baltimore Consort mit seinem „Crossover“ aus Volks- und Folk-Musik des 16. und 17., aber auch des 20. Jahrhunderts an, während die Ausflüge ins antike Griechenland bzw. in den italienischen Karneval auf geringere Zustimmung stießen (De Organographia & Oregon Renaissance Band – bei beiden Konzerten gönnte sich der Rezensent eine musikfreie Auszeit).
Nicht zuletzt dort, wo der vermeintlich historisierende Blick zurück in einen innovativen Musizierstil jenseits aller Nostalgie umschlägt, da wird aus diesem Festival eine nicht hoch genug einzuschätzende Bestandsaufnahme unseres heutigen Musikverständnisses, das sich immer auch über den Umgang mit der Vergangenheit zu definieren hat. Den Veranstaltern, die für eine professionelle, nie aber kühl geschäftsmäßig wirkende Organisation sorgten, und uns Zuhörern bleibt zu wünschen, daß in den kommenden Jahren ähnlich hochklassige und risikofreudige Tage Alter Musik zustande kommen mögen.