Roman Hankeln
Regensburg, Kloster des Heiligen Emmeram, im Herbst des Jahres 1049. In einer dunkelnden Ecke des Scriptoriums träumt sich ein Mönch hundertfünfzig Jahre zurück in jene goldene Vergangenheit, als die Kronen der Karolinger den Altar der Kirche schmückten, als der letzte Karolingerkaiser Arnulf von Kärnten (887–899) das Kloster beschenkte, sich hier begraben ließ und dabei einen Schatz hinterließ, zu dem auch das wertvollste St. Emmeramer Buch aller Zeiten gehörte, der Codex aureus. Und jetzt? Die Großen des Reichs vernachlässigen die Abtei. Wirtschaftlicher Niedergang droht. Ein Wunder tut Not. Oder ein Heiliger. Oder beides. Und so entfließt der kratzenden Feder des unbekannten Mönchs im unwirklichen Nebelgrau dieses Herbsttages ein gefälschtes Dokument. Ein Bericht, der von der angeblichen Entführung des Heiligen Dionysius Areopagita aus der Abtei Saint-Denis bei Paris zur Zeit und auf Befehl Kaiser Arnulfs erzählt. Und von dem „Wunder“ seiner „Entdeckung“ – in St. Emmeram.
Im Oktober des Jahres 1049, so erfahren wir aus dem Dokument, sind die Mönche von St. Emmeram nach Jahren vorsichtigen Schweigens über ihren wertvollen „Besitz“ endlich an die Öffentlichkeit getreten. Dionysius ist – trotz skeptischen Kopfschüttelns vieler Regensburger – neben St. Emmeram zum zweiten Patron des Klosters proklamiert worden.
Tatsächlich: Wir wissen, daß der St. Emmeramer Abt Reginward (1048–1060) um diese Zeit den Auftrag gegeben haben dürfte, einen riesigen Kirchenanbau zu schaffen: Ein gewaltiger Westchor entstand, in dessen Zentrum sich heute die Wolfgangskrypta befindet. Geweiht wurde dieser Westchor aber dem Heiligen Dionysius. Seine Gebeine – von denen man im gefälschten Bericht lesen kann, daß sie seinerzeit in zwei Säckchen nach Deutschland transportiert wurden – hat man unter dem Kreuzaltar des Dionysiuschores allerdings nie gefunden.
Saint Denis – lateinisch: Sanctus Dionysius – war der legendäre erste Bischof von Paris. Er wanderte nach seiner Enthauptung auf dem Montmartre, Kopf unter dem Arm, Gott lobsingend davon, um mit seinen Gefährten Rusticus und Eleutherius zwei Meilen nordwärts der Stadt begraben zu werden. Dort entstanden später Kirche und Kloster, Ziel heutiger Touristenscharen, die hier einer Metrostation entquellen, um den wohl geschichtsträchtigsten Ort ganz Frankreichs zu photographieren.
Hilduin, Abt von Saint-Denis († 855/61), hatte einst einen genialen Einfall: Er behauptete in einer Lebensbeschreibung (Vita), Dionysius, der erste Bischof von Paris, sei identisch mit dem noch von Paulus selbst bekehrten ersten Bischof von Athen, Dionysius Areopagita. Ihm schrieb man im Mittelalter mehrere brandwichtige Werke über die Hierarchie des Himmels und der Kirche zu. Verfaßt hat sie ein Unbekannter, der so tat, als sei er Dionysius Areopagita selbst. Dionysius-Denis Areopagita, hochberühmt seit den Zeiten der Merowinger, wurde es nach dieser Fälschung erst recht. Seine Kirche war Begräbnisstätte aller französischen Könige, bis zur Revolution 1789 das Nationalheiligtum Frankreichs.
Die Emmeramer wußten genau, was sie taten, als sie behaupteten, dieser Heilige sei gar nicht mehr in Paris, sondern in Regensburg. Der Coup sollte ihnen das Ansehen wiedererobern, das sie unter Kaiser Arnulf einst genossen hatten. Man wollte wieder ein Saint-Denis des Ostens werden, nachdem man um die Jahrtausendwende wenigstens zu einem europäischen Bildungszentrum ersten Ranges aufgerückt war: Bischof Wolfgang hatte 975 mit der Einsetzung des Trierers Ramwold († 1001) zum Abt von St. Emmeram den Weg für Reformen geebnet. Und Ramwold machte die Bibliothek zur Chefsache: Wir aber, die die Glieder der Kirche sind und die wir gekennzeichnet sind mit dem Salböl der Gnade des Herrn, bemühen uns [...] alle Notwendigkeiten unseres Klosters innen wie außen [...] instandzusetzen und sorgen uns am meisten um die Bücher, aus deren Lehre beinahe die ganze Welt besteht. Ergebnis war ein Bücherschatz, der in seiner damaligen Bedeutung das war, was heute die Library of Congress in Washington oder die Bibliothèque Nationale zu Paris ist: ein Riesenberg Wissen. In St. Emmeram abgeschriebene Bücher wanderten in alle Welt. Ihnen konnte man alles entnehmen – auch das für die Fälschung notwendige.
Zu einem neuen Patron gehörte unbedingt eine besondere Feier der Liturgie. Sie formulierte den Anspruch und das Selbstbewußtsein der Klosterbewohner nach innen wie außen. So feierte man den Stundengottesdienst (Offizium) zum Fest des neuen Regensburger Patrons in aller Ausführlichkeit und mit allem Weihrauch, funkelnden Kerzen, golddurchwirkten Gewändern, blinkenden Kelchen und: glänzender Musik.
Die Dionysiusfälschung ist ein schillernder Punkt in der Geschichte des europäischen Kultur- und Musikverkehrs. Denn mit der Inanspruchnahme des französischen Patrons allein war es an St. Emmeram nicht getan. Zwei Fassungen des Regensburger Dionysiusoffiziums sind in St. Emmeramer Pergamenthandschriften der Münchner Bayerischen Staatsbibliothek aus dem 11. Jahrhundert überliefert, alles in allem mehr als 60 Gesänge für Vespern, Nocturnen (Nachtgottesdienst) und Laudes (bei Tagesanbruch). Die ca. 30 Gesänge des ersten St. Emmeramer Dionysiusoffiziums (ca. 1050) hat man nur zum Teil an St. Emmeram selbst komponiert. Erstens gehörte Dionysius zu jenen „Standard“-Heiligen, die man spätestens seit dem 9. Jahrhundert in fast ganz Europa verehrte, auch im Emmeramskloster. Als der Normalheilige im 11. Jahrhundert zum Hauptheiligen, zum Patron neben Emmeram erkoren wurde, importierte man aber einige Gesänge möglicherweise sogar direkt aus Frankreich: Gesänge des französischen Dionysiusoffiziums, die im Bayern des Jahres 1049 unbekannt waren. In St. Emmeram selbst komponierte man vor allem die Responsorien neu, lange Gesänge z. T. mit kunstvollen Hexametertexten, die im Nachtgottesdienst auf die jeweilige feierliche Lesung folgten. Wie genau die „französischen“ Gesänge dieser Offiziumsfassung nach Regensburg kamen, ist ungeklärt. In der internationalen Kulturkommune der Benediktinerklöster des 11. Jahrhunderts konnten aber Gesänge wie Nachrichten und wissenschaftliche Neuentwicklungen schnell weitergeleitet werden. Außerdem kamen die Mönche selbst weit herum. Einer von ihnen war Otloh von St. Emmeram, der nicht nur halb Süddeutschland bereist hatte, sondern auch in Italien gewesen war. Vielleicht war er der unbekannte Mönch, der den gefälschten Bericht vom Raub der Dionysiusgebeine verfaßt hatte, denn er war Dionysius-Spezialist. Einst muß er Montecassino, das Kloster des Heiligen Benedikt besucht haben. Damals hatte er nebst Hilduins Dionysiusvita auch die Werke des Areopagiten nach Hause mitgebracht. In Otlohs Schrift ist auch der areopagitisch angehauchte, zusätzliche Text zu einer alten Kyrie-Melodie erhalten geblieben, wohl ein Souvenir dieser Italienreise. Otloh dürfte 1049 um die vierzig gewesen sein. Seine Viten großer Heiliger (z. B. Wolfgang) sind bekannt. Er schrieb eine feine Schrift, mit der er zahlreiche Bücher und auch die um 1050 noch moderne Musiktheorie Guidos von Arezzo für den Unterricht an seinem Kloster kopierte. Otloh hat auch die zweite Fassung des Dionysiusoffiziums von St. Emmeram mit Text und Neumen aufgeschrieben. Es steht in einem modernen musikalischen Stil, hat gereimte Texte, verzichtet aber auf Importe aus dem Ausland.
Der weitgereiste Otloh war an St. Emmeram nicht allein: In der Bayerischen Staatsbibliothek wird heute eine St. Emmeramer Handschrift des 11. Jahrhunderts aufbewahrt, die größtenteils von Hartvic von St. Emmeram (ca. 1030) in Chartres abgeschrieben wurde. Hartvic war dort Student des berühmten Gelehrten und Bischofs von Chartres, Fulbert (ca. 960–1028; Fulbert war übrigens ebenfalls ein Verehrer der Schriften des Dionysius Areopagita und auch Hartvic kannte areopagitische Schriften). Die Hartvic-Handschrift enthält – neben einem von Fulbert kommentierten Text des antiken Musiktheoretikers Boethius – u. a. auch Teile dreier berühmter theoretischer Musiktraktate, der Musica enchiriadis, der Scholica enchiriadis und der Commemoratio Brevis. Diese Traktate sind schon im 10. Jahrhundert in Nordfrankreich entstanden. Sie lehren die Grundlagen mittelalterlicher Einstimmigkeit (Intervalle, Konsonanzen und Tonarten) und – das macht ihre besondere Bedeutung aus – neben einer einfachen Art des Quart-Parallelorganums auch eine höherentwickelte Art dieser frühen Mehrstimmigkeit: Etwas beweglicher als einfaches Note-gegen-Note-Organum, wurde auch diese nach bestimmten Faustregeln improvisiert – u. a. deshalb sind Aufzeichnungen davon sehr selten (und aus St. Emmeram nicht erhalten). Durch Hartvics Handschrift wissen wir aber, daß man um 1030 an St. Emmeram nach französischem Muster mehrstimmig singen konnte.
... und wir?
Hartvics Theoriehandschrift, Otlohs Guidoabschrift, das Emmeramer Fälschungsunternehmen im Dunstkreis der Dionysius-Rezeption zeigen ein überraschend internationales Bild von Kulturvernetzung. Die geschichtlichen Nachwirkungen gerade der Fälschungen für St. Emmeram waren bedeutend: Es entstanden der Westbau, Skulpturen, ein unglaublich prachtvoller Silberschrein (des 15. Jahrhunderts) und auch die beiden Fassungen des Dionysiusoffiziums, das an St. Emmeram bis zur Säkularisation gefeiert wurde und bis dahin noch mehrere Gestaltwandlungen erfahren hat.
Wir runzeln natürlich zuerst die Stirn über das „amoralische“ Mittelalter und seine Fälschungen. Das allein erklärt aber nichts. Vielleicht kann man es auch so sehen: „Fälschung“ mag ein Wirkmittel der Kultur in jenen Zeitläuften gewesen sein, in denen die Herrschenden meist noch als Analphabeten herumdümpelten – Ausnahmen, wie Kaiser Heinrich II. († 1024), der einst an St. Emmeram in die Schule gegangen war, bestätigen die Regel. Allemal erscheint der St. Emmeramer Dionysiuscoup als ein großes Kulturgebräu, bei dem einiges zusammenkam: Das historische Bewußtsein von einer großen Vergangenheit, die wertvolle Hinterlassenschaft Kaiser Arnulfs, der persönliche Kontakt mit dem Ausland über Hartvic und Otloh – die wohl nur die Spitzen des Eisberges sind –, das Anwachsen überall gesammelten dionysianischen Gedankenguts, die Bautätigkeit Abt Reginwards, die Produktion von Texten und Musik für den neuen Heiligen, für die man zum Teil fremdländisches Material benutzte.
Was haben wir von der Musik der Dionysius-Offizien zu halten? Eins ist sie sicher: ein Teil der Liturgie. Um das sein zu können, mußte sie zu den höchstmöglichen kulturellen Hervorbringungen gehören, denen ein Mönchskonvent fähig war. Darauf weist mindestens folgende Passage (hier speziell über die Ausführung des Gesangs) aus der Commemoratio Brevis hin – einen Teil davon hatte einst Hartvic aus Chartres mit nach Regensburg gebracht: Spieler der Cithara, der Flöte und anderer Musikinstrumente, auch weltliche Sänger, Frauen und Männer, sie alle geben besonders darauf acht, den Regeln ihrer Kunst zu gehorchen, damit das, was sie singen und spielen, angenehm für ihr Publikum ist. Sollen wir dann, die wir das Privileg erhalten haben, unsere Stimme dem Gotteslob zu leihen, sollen wir den heiligen Gesang schwerfällig und schlampig singen und keinen größeren Gebrauch vom Schmuck der Kunst machen für Dinge, die geheiligt sind als jene, die sie auf Nebensächlichkeiten verschwenden?
Laßt uns jubeln, Brüder, in der Freude des Geistes! Über diesen Festtag freuen sich zugleich der Arme und der Reiche, die Fremden wie der Bürger, über diesen so großen Festtag der allerheiligsten Märtyrer Dionysius, Rusticus und Eleutherius, von denen wir mit größtem Eifer Dionysius verehren, den Patron des Vaterlandes. Diesen bitten wir, indem wir ihn mit allen Kräften anrufen, daß er uns und unser Kloster mit seinen Bitten schütze.
Diese Antiphon wurde spätestens seit der Mitte des 11. Jahrhunderts an St. Emmeram alljährlich am 4.
Dezember zum Fest der Überführung des Heiligen Dionysius aus Saint-Denis gesungen. Ihre virtuose Melodie ist
stilistisch neuartig und läßt die traditionelle Formelmelodik des Gregorianischen Chorals weitgehend hinter
sich.
Übertragen aus München, Bayerische Staatsbibliothek clm 14872 (16. Jh., Liniennotation) sowie clm 14069 und 14871
(11. Jh., Neumen).