Mälzels Magazin

Zeitschrift für Musikkultur in Regensburg

Schriftzug Mälzels Magazin
Hefte2002Nr. 1
mälzels magazin, Heft 1/2002, S. 4–10
URL: http://www.maelzels-magazin.de/2002/1_03_georg.html

David Hiley

Jagd auf den Heiligen Georg

Eine musikalische Spurensuche zwischen Prüfening, Prüll und Prag

Viele Leser von Mälzels Magazin werden die herrliche Ausstellung „Regensburger Buchmalerei“ noch bestens in Erinnerung haben, in der vor fünfzehn Jahren eine erstaunliche Zahl mittelalterlicher Handschriften höchster künstlerischer Qualität gezeigt wurde. Eher unwahrscheinlich ist es, daß unter so vielen glänzenden Exponaten eine vergleichsweise unauffällige Handschrift des 12. Jahrhunderts aus dem Kloster Prüfening (ein Brevier für das Stundengebet) im Gedächtnis geblieben ist: die Handschrift Clm (= Codex latinus monacensis) 23037 der Bayerischen Staatsbibliothek in München. In der Ausstellung wurde eine Seite mit lateinischen Texten, musikalischer Notation in Form von linienlosen Neumen und – zweifelsohne der Grund für die Wahl dieser Seite – schönen Rankeninitialen D und B präsentiert (Kat. Nr. 28, Tafel 107). Es sind die ersten Buchstaben der Lesung Dignum et congruum est karissimi ut gaudia nostra cum sanctis martyribus conferamus bzw. des Gesangs Beatus vir qui metuit Dominum. Eigentlich ist auf den ersten Blick gar nicht klar, um was es hier geht und warum gerade diese zwei Buchstaben so schön geschmückt erscheinen. Wer ist der „Beatus vir“, wer sind die „heiligen Märtyrer“, von denen hier die Rede ist?

Ein Brevier beinhaltet alle Texte, die für den Vortrag des Stundengebets (Vesper, Nachtoffizium, Laudes, usw.) notwendig sind, also Gebete, Lesungen und Gesänge. Dementsprechend sind viele – aber keineswegs alle – Breviere auch mit musikalischer Notation für die Gesänge versehen. Die Lesung Dignum et congruum est und der Gesang Beatus vir qui metuit Dominum sind Stücke, die am Festtag eines Märtyrers Verwendung fanden. Märtyrer gibt es viele im Kalender der Kirche. Nicht in jedem Fall hat man es für notwendig erachtet, besonders spezifische oder aktuelle Texte vorzutragen. In der rechten Spalte der abgebildeten Seite erscheint der Name des betreffenden Märtyrers, mit welchem wir unsere Freude zusammentragen sollten („ut gaudia nostra cum sanctis martyribus conferamus“), überhaupt nicht. Erst in den in der linken Spalte geschriebenen Texten – kleiner geschrieben, um Platz für die musikalische Notation zu schaffen – finden wir den Namen des Märtyrers. In der vierten Zeile links oben sieht man die Abkürzung R (= Responsorium, eine bestimmte Gesangsgattung) und ein großes I (Initiale des ersten Wortes). Der Text beginnt: „Invictissime summi regis bellator GEORGIUS, dum inter diutinas passionis sue moras multa constanter supplicia pertulisset, & multum domino populum acquisisset, eternam angelorum iocunditatem martyrio laureatus promeruit, in qua suis perpetim militibus gloria & honore Christus est omnia in omnibus, Alleluia.“

Es geht also um den hl. Georg, den unbesiegten Kämpfer des höchsten Königs. Nachdem er lange Zeit die Marter seines Leidens mit Standhaftigkeit getragen und eine große Volksmenge für den Herren gewonnen hatte, hat er, durch den Märtyrertod gekrönt, die ewige Freude der Engel verdient, in welcher Herrlichkeit und Ehre Christus seinen Streitern immerfort alles und in allem ist, alleluia. Anscheinend erzählt auch dieser Text nichts detailliertes über den Heiligen: keine Einzelheiten über die Christenverfolgung unter Diokletianus, kein Drachen und keine Prinzessin (sie tauchen erst im 13. Jahrhundert auf ). Zumindest ist Georg mehrmals als Krieger bezeichnet und vielleicht deshalb nicht lediglich als symbolischer Krieger Gottes sondern tatsächlich als (römischer) Soldat (wie einige andere Märtyrer: Albanus, Maurizius) zu identifizieren.

Das handschriftliche Brevier stammt, wie gesagt, aus dem Benediktinerkloster Prüfening, jener Mönchsgemeinde, die eine erste Blütezeit im Jahrhundert nach der Gründung des Klosters im Jahre 1109 und eine zweite im Jahrhundert vor der Säkularisation 1803 erlebte. Die Kirche der alten Anlage, deren erhaltene Teile heute wieder mit Leben erfüllt werden, wurde dem hl. Georg geweiht. Der Klostergründer Bischof Otto von Bamberg hatte an der Stelle, an der später das Gotteshaus aufgerichtet werden sollte, die Vision einer Himmelsleiter mit auf- und niedersteigenden Engeln.

Seit dem frühen Mittelalter hat Georg am 23. April einen festen Platz im Kirchenkalender. Dabei zählt er jedoch nicht zu den allerbedeutendsten Heiligen der Kirche. Daher ist es nicht verwunderlich, in beinahe allen liturgischen Büchern des Mittelalters zum Georgsfest lediglich Stücke zu finden, die für beliebige Märtyrer verwendet werden könnten. Sie gehören zum sogenannten „Commune Sanctorum“, dem „Gemeingut der Heiligen“: es sind gemeinschaftliche Gebete, Lesungen und Gesänge. Das Brevier von Prüfening ist also ein Ausnahmefall, da man dort mehrere speziell für Georg verfaßte Stücke vorfindet. Das könnte auf einen neuen Aufschwung der Verehrung Georgs hindeuten. Nachdem Georg gemeinsam mit dem hl. Demetrius den Kreuzfahrern vor der Einnahme Antiocheias im Jahre 1098 während des 1. Kreuzzuges erschien, gelangte er zu neuer Popularität. Wie beim Westchor des Bamberger Domes wählte Otto von Bamberg mehrfach Georg als Schutzheiligen für von ihm gegründete Kirchen.

Die Gebete, Lesungen und Gesänge für den Festtag des hl. Georg wurden auf sechs der über 700 Seiten der Pergamenthandschrift eingetragen. Insgesamt wurden 36 Gesänge aufgezeichnet, von denen einige bloß durch Textincipits angedeutet sind, weil sie entweder bereits früher in der Handschrift (etwa für einen anderen Märtyrer) oder im allgemeinen Communeteil zu finden sind. Die 36 Gesänge verteilen sich über die verschiedenen Gebetsstunden. Für die Vesper am Vorabend des Georgstages (den Beginn des liturgischen Tages) sind sechs Gesänge vorgesehen und ein Stück steht für eine feierliche Prozession nach der Vesper zur Verfügung; mit 19 Gesängen wurde der lange Nachtgottesdienst gestaltet, dem acht Stücke für Laudes zum Tagesanbruch folgen; jeweils ein Gesang für die Prozession vor der Messe und zur Vesper am Ende des Tages bilden den Abschluß.

Die meisten Betrachter der abgebildeten kleinen Neumen wollen – so hofft der Musikforscher – nun auch wissen, wie die Gesänge damals im 12. Jahrhundert in der wunderschönen romanischen Georgskirche zu Prüfening geklungen haben mögen. Leider können wir dies nicht genau sagen, denn eine ununterbrochene Tradition des Kirchengesangs seit dem Mittelalter gibt es nicht. Wir haben deshalb auch keine genaue Vorstellung, in welchem Tempo, wie laut oder leise und mit welchem Stimmcharakter gesungen wurde. Ein Anfang wäre schon einmal gemacht, wenn wir die Neumen in eine uns verständliche Notenschrift übertragen könnten.

Leider ist keine einzige Handschrift aus Prüfening erhalten, die uns dabei helfen könnte. So weit uns heute bekannt ist, gibt es keine weiteren Handschriften aus Prüfening mit den Gesängen für die Gebetsstunden, und somit auch keine Handschrift in für uns lesbarer Liniennotation. Der Fall ist jedoch nicht ganz hoffnungslos. Von den 36 Gesängen sind 28 Commune-Gesänge, d.h. sie sind überall in mittelalterlichen Handschriften, natürlich auch in jenen mit Liniennotation, zu finden, eben weil sie an den Festtagen unterschiedlicher Märtyrer gesungen wurden. Das sind aber gerade nicht diejenigen, die uns am meisten interessieren. Wir wollen jene 8 Georgs-Gesänge hören, die nicht Teil der allgemeinen, gemeinschaftlichen Überlieferung waren, sondern eben die speziellen, die vielleicht in Prüfening selbst komponiert wurden. Es sind folgende:

1. Antiphon Beatissimi martyris Christi Georgii adest almifica festivitas als Rahmengesang für die Psalmen zur Vesper.
2. Responsorium Invictissimus summi regis bellator Georgius mit Vers Nunc o sancte dei testis zur Vesper.
3. Antiphon Adest nobis laude colendus als Rahmengesang zum Magnificat zur Vesper.
4. Prozession-Antiphon Inclite Christi martir Georgi.
5. Responsorium Cultor terre virentium Georgius greco sic nomine mit Vers Tantis in celestibus, eines der 12 Responsorien, die jeweils nach einer Lesung im Nachtgottesdienst zu singen sind.
6. Responsorium Moribus uniti vos mit Vers Pacis tranquille sitientes, das letzte der 12 Responsorien im Nachtgottesdienst.
7. Antiphon Egregie dei martyr Georgius als Rahmengesang zum Benedictus zu Laudes.
8. Responsorium Martyr sancte dei clemensque patrone mit Vers Ad patriam regni für die Prozession vor der Messe.

Von diesen acht sind drei Gesänge, Nr. 1, 6 und 7, nur sehr selten überliefert, aber nicht unbedingt in Prüfening entstanden. Sie tauchen, wenn überhaupt, fast nur im süddeutschen Raum auf und manchmal bezogen auf einen anderen Heiligen. So taucht das Responsorium Nr. 6 mit dem Namen Egidius statt Georgius in Handschriften aus Klosterneuburg auf, anhand deren Liniennotation sich das Stück rekonstruieren lässt. Werden wir aber die anderen fünf einst entschlüsseln können? Die Zahl der erhaltenen liturgischen Handschriften aus dem europäischen Mittelalter ist mit vermutlich über 100.000 trotz aller Verluste recht stattlich, und es wird lange dauern, bis ihr Inhalt in allen Fällen geprüft sein wird. Naheliegenderweise wird man den Blick auf Bayern und Regensburg konzentrieren, in der Hoffnung, daß eine „Übersetzung“ der acht Georgs-Gesänge dort auftaucht. Die Hoffnung ist freilich nicht groß, denn vor allem im Hinblick auf lokale Patrozinien gehen benachbarte Kirchen stark auseinander. Es ist nicht zu erwarten, daß beispielsweise in St. Emmeram besondere Gesänge zu Ehren des hl. Georgs gesungen wurden. Die üblichen Commune-Gesänge schon, aber nicht die für Prüfening eigens geschaffenen. Erfolgversprechender dürfte es sein, den Blick auf andere dem hl. Georg geweihte Kirchen zu wenden. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Prüfening Georgs- Gesänge von einer verbrüderten Mönchsgemeinde importierte bzw. an eine solche lieferte.

Bei der Jagd auf die entkommenen Gesänge helfen freilich nicht nur Kenntnisse der mittelalterlichen Überlieferungsstränge und der modernen Forschungsliteratur sondern auch ein bißchen Glück. Unerwarteterweise läßt sich die Prozession-Antiphon Inclite Christi martir Georgi (Nr. 4) in einer anderen Regensburger Handschrift finden, und zwar in einem Prozessionar aus dem Kloster Prüll. Die Handschrift Clm 26770 der Bayerischen Staatsbibliothek [– wie fast alle Handschriften aus den Klöstern Bayerns wurde Clm 26770 wie auch Clm 23037 im Zuge der Säkularisation nach München gebracht –] stammt aus der Zeit unmittelbar vor der Übergabe des Benediktinerkloster Prüll bei Regensburg an die Kartäuser im Jahre 1484. Die Handschrift zeichnet die Texte und Gesänge für feierliche Prozessionen während des Kirchenjahres von Advent bis Pfingsten auf, bricht dann aber unvollendet ab. Da die Kartäuser ganz anderen Gebräuchen folgten, hatte die Handschrift für sie keinen Nutzen. (Sie ist später in die Hände des Emmeramer Mönches Dionysius Menger gekommen, der die leergebliebene Blätter für elementare musikalische Lehrschriften benutzte.) Die Rubriken und Anweisungen der Handschrift lassen offen, ob die Mönche in Prozession nach Prüfening gegangen sind, um dort die Antiphon Inclite Christi martir Georgi zu singen. Hinweise auf andere Langstreckenprozessionen zum Dom St. Peter und nach Dechbetten sind in der Handschrift zu finden. Das im Jahre 997 gegründete Kloster Prüll war neben dem hl. Vitus auch den hl. Bartholomäus und Georg geweiht. Es ist also durchaus möglich, daß die Antiphon für eine Prozession zum Georgs-Altar in der Klosterkirche Prüll bestimmt war.

Da die Neumen in der Handschrift Clm 23037 aus Prüfening (auf der Abbildung 1 in der linken Spalte gegenüber dem großen B zu sehen) mit der Liniennotation der Handschrift Clm 26770 aus Prüll genau übereinstimmen, kann man das Stück einwandfrei übertragen. Damit wäre einer von den acht gesuchten Georgs-Gesängen wiedergefunden. Am 12. Juli 1998 erklang er zum ersten Mal seit der Säkularisation in Prüfening während eines Konzerts der Choralschola „Tonus Peregrinus“ des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Regensburg.

Durch die Handschriftenkataloge der Bayerischen Staatsbibliothek sind auch Beschreibungen der Dokumente greifbar, die aus Regensburg stammen oder stammen könnten. Selbst Handschriftenfragmente sind zum Teil erfaßt worden, und unter diesen sind Blätter zu finden, die uns ein kleines Stück weiter helfen. Dabei handelt es sich um das vordere und hintere Schutzblatt der Handschrift Clm 12027: nur vier Pergamentseiten mit liturgischen Gesängen in Liniennotation des 12. Jahrhunderts. Die Art der Notation und vor allem die Tatsache, daß sich ein Gesang zu Ehren des hl. Georg dort befindet, läßt vermuten, daß die Blätter aus Prüfening stammen. Sie sind die kärglichen Überbleibsel eines Antiphonars mit Gesängen für das Stundengebet durch das Kirchenjahr, die nachträglich für eine Prüfeninger Handschrift völlig anderer Art (Predigten von Johannes Kopp, später Abt von Prüfening) verwendet wurden.

Die Blätter wurden beim Zuschneiden für ihren neuen Zweck als Einband beschädigt und sind nicht vollständig erhalten. Nach einigen Antiphonen aus dem Vorrat für die Sonntage nach Pfingsten erscheint die Rubrik „De sancto Georgio“. Doch das Entdeckerglück wird schnell gedämpft: Man findet hier noch einmal die Prozessions-Antiphon Inclite Christi martir Georgi (Nr. 4), noch dazu wegen der Beschädigung der Handschrift unvollständig überliefert. Auf der anderen Seite sind immerhin etwa zwei Drittel der Antiphon Egregie dei martyr Georgius (Nr. 7), allerdings ohne den Anfang, zu lesen. Es folgen nicht die Stücke, die in der Prüfeninger Handschrift an dieser Stelle zu finden sind, sondern Gesänge aus dem Totenoffizium. Auf dem anderen Blatt sind wiederum nur Gesänge für die Nachpfingstzeit zu finden. Die Bilanz ist bis jetzt also nicht sonderlich beeindruckend.

Georg-Patrozinien sind nicht zahlreich. Bamberg wurde erwähnt, aber die gesuchten Georgsgesänge sind nicht in den liturgischen Büchern des Bamberger Domes zu finden. Aus anderen dem hl. Georg geweihten Kirchen wie etwa Weltenburg sind keine einschlägigen liturgischen Quellen erhalten. Blickt man noch weiter in die Ferne, wird man sich vielleicht an das Georgs-Kloster auf dem Hradschin (der Burg) in Prag erinnern sowie auch an die Tatsache, daß Regensburg in der frühen Geschichte dieses Klosters eine nicht unwichtige Rolle spielte. Die Kirche wurde bereits vor 921 von Fürst Wratislaw I. (Vater des hl. Wenzel) gegründet und 925 durch den Regensburger Bischof Tuto geweiht. Sie war vermutlich als Grabkirche für die ermordete Mutter Wratislaws, die hl. Ludmila, gedacht, wurde aber zur Grabkirche für die Dynastie der Premysliden. 1142 brannte sie während kriegerischer Ereignisse nieder. Die schöne romanische Kirche, die wir heute kennen, stammt aus der Zeit nach dem Brand.] Erwartungsgemäß ist ein voller Zyklus an Gesängen für das Georgsfest in Handschriften aus St. Georg in Prag zu finden. Die erhaltenen Quellen stammen alle aus der Zeit um 1300 oder später; für das 12. Jahrhundert haben wir keine Zeugnisse.

Die Prager Quellen enthalten ein Georgs-Offizium (eine „Historia“, wie man sie nennt), das auf den ersten Blick anders aussieht als das Prüfeninger. Die meisten Gesänge sind nicht in Clm 23037 zu finden. Aber glücklicherweise gibt es auch Übereinstimmungen. Zu finden sind Nr. 1, die Antiphon Beatissimi martyris Christi Georgii adest almifica festivitas, Nr. 2, das Responsorium Invictissimus summi regis bellator Georgius und Nr. 7, die Antiphon Egregie dei martyr Georgius. So können wir Nr. 7 vervollständigen, und Nr. 1 und Nr. 2 sind gerettet.

Man fragt sich, wie und weshalb dieselben Gesänge – auch wenn es nur drei sind – sowohl in Prüfening als auch in Prag zu finden sind. Ohne die Spekulation ins Unendliche zu treiben, darf man vielleicht folgende Hypothese aufstellen: Die Mehrheit der Georgs-Gesänge in Prüfening sind Commune-Gesänge. Man kann sich vorstellen, daß sich in Prag der Bedarf an einem vollständigen Gesangszyklus mit eigenen Kompositionen zu Ehren Georgs äußerte. Ein paar ältere Gesänge (Nr. 1, 2 und 7) wurden beibehalten, die Mehrzahl aber neu komponiert (in den Prager Quellen sind es etwa 30). Dies setzt natürlich voraus, daß die Prüfeninger Fassung in Prag entweder bekannt war oder daß beide Klöster dieselbe Fassung von anderswoher bekommen haben. Daß die Prager Georgskirche Gesänge aus Prüfening bekommen haben könnte, ist mindestens denkbar. Freilich lag die Zeit der engen Verbindungen zwischen Prag und Regensburg im 10. Jahrhundert und damit weit zurück. Bischof Michael von Regensburg konsekriert 930 die Prager Veitskirche, Boleslaw I. (929/35–967/71) schickte seinen Sohn Strachkwas zur Erziehung nach St. Emmeram, während seine Tochter Milada auch in Regensburg christlich erzogen wurde. Vermutlich kamen auch die ersten Nonnen im Prager Georgskloster aus dem Niedermünster in Regensburg. Was das 12. Jahrhundert betrifft, so wurden sowohl Süddeutschland als auch Böhmen von der monastischen Reformbewegung erfaßt, die von Hirsau im Schwarzwald ausging. Prüfening war Hirsauer Reformkloster, in Böhmen waren es u.a. Seelau, Kladrau, Wilemow und Postelberg bei Saaz. Man kann sich gut vorstellen, daß sich das nach dem Brand 1142 mit der Restaurierung seiner Liturgie beschäftigte Georgskloster in Prag an das aufblühende Reformkloster Hirsauer Prägung Prüfening bei Regensburg gewandt haben könnte. Daß es relativ bald zu einer Erweiterung der neuen Gesänge gekommen sein muß, bezeugen die Stücke in den Prager Quellen. Es sind Gesänge im neuen „neugregorianischen“ Stil des 11. bis 12. Jahrhunderts, die auf die „klassischen“ Melodieformel des Gregorianischen Chorals im engeren Sinne verzichten. Sie sind in der numerischen Reihenfolge der Kirchentonarten geordnet. Aber die Texte, in Prosa mit Assonanz, sind noch nicht mit dem regelmäßigen Reim und im Rhythmus des 13. Jahrhunderts geschrieben.

Auch die für Prüfening restaurierbaren Gesänge weisen den für diese Zeit typischen Stil auf. Die Übertragung zeigt das Responsorium Invictissimus summi regis bellator Georgius mit Vers Nunc o sancte dei testis zur Vesper (Nr. 2). Es wurde aus der Prager Handschrift XIV.C.20 der Universitätsbibliothek Prag übertragen.

GESUCHT:
Noch drei Georgs-Gesänge aus Prüfening.

BELOHNUNG:
Exemplare aus der Reihe „Historiae“ der Forschungsgruppe „Cantus Planus“ der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft; ein Band pro gefundenes Stück.
Informationen bitte an den Verfasser: Prof. Dr. D. Hiley, Institut für Musikwissenschaft, Universität Regensburg, 93040 Regensburg, david.hiley@psk.uni-regensburg.de

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