Michael Wackerbauer
50 Jahre neue musikzeitung aus Regensburg
„Schizo-Land. Was ist nur los in unserer schönen Bundesrepublik?“ schmettert uns die als Leitartikel positionierte Glosse der Märzausgabe der neuen musikzeitung entgegen. „Dieses Land braucht offensichlich eine Therapie.“ Es sind nicht gerade die leisen Töne, mit denen sich Deutschlands auflagenstärkste Musikzeitung seit nunmehr fünfzig Jahren auf dem Markt behauptet. Dabei entsteht das einzige Presseprodukt aus Regensburg, das im gesamten deutschsprachigen Raum regelmäßig und in großer Zahl seine Leserschaft findet, in eher idyllischem Ambiente. Vor fünf Jahren ist die Redaktion aus der Von-der-Tann-Straße – einem der wenigen großstädtisch anmutenden Straßenzüge Regensburgs – an den Stadtrand ins ländliche Graß gezogen. Das Verlagsgebäude mit seinen Grasdächern hat sich wohl mittlerweile zu einem Erkennungszeichen der Ortschaft entwickelt, spiegelt aber sicherlich nicht sein Innenleben wieder: Gras läßt man bei der nmz in Sachen Musik sicherlich über kein strittiges Thema wachsen.
Neben der nmz entstehen hier unter dem Dach der ConBrio Verlagsgesellschaft noch sechs weitere Periodika: Die Jazzzeitung, Oper & Tanz, Musica Sacra, Beiträge zur Gregorianik, music outlook (Schwerpunkt Pop) und – gerade erst aus der Taufe gehoben – die Zeitung des Deutschen Kulturrates politik und kultur (puk). All diese unterschiedlich ausgerichteten überregionalen Zeitungen und Zeitschriften sieht Theo Geißler als „Bausteine um die nmz als kulturpolitisches Flackschiff“ angesiedelt.
Theo Geißler, Herausgeber und Chefredakteur der nmz, ist seit seiner Jugend eng mit dem Blatt verbunden, das bis 1969 noch einen anderen Namen trug: Musikalische Jugend. Der Regensburger Musikverleger Bernhard Bosse hatte Anfang der fünfziger Jahre mit großem Interesse die ersten Bestrebungen verfolgt, die internationale Bewegung jeunesses musicales in Deutschland zu etablieren. In der allgemeinen Aufbruchstimmung versuchten sich viele Musikbegeisterte nach dem Krieg erst einmal zu orientieren und Anschluß an die Entwicklungen zu finden, die in den letzten zwanzig Jahren in der „übrigen“ Welt stattgefunden hatten. Nach einem sehr erfolgreichen Jugendfestspieltreffen, das ein Jahr nach der Gründung der deutschen Sektion der jeunesses musicales im Jahre 1951 in München veranstaltet worden war, schlug der junge Verleger Bosse vor, der neuen Bewegung ein Sprachrohr in Zeitungsformat zu verleihen. Durch einen entsprechend niedrig angesetzten Preis sollte ein möglichst großer Leserkreis erreicht werden. Außerdem ermöglichte das Zeitungsformat neben dem journalistischen Tagesgeschäft auch neue und seinerzeit noch ungewöhnliche Formen der schriftlichen Auseinandersetzung mit musikalischen Themen: bei kontroversen Debatten boten die großformatigen Seiten beispielsweise viel Raum, gegensätzliche Positionen auf einen Blick und in gebotener Ausführlichkeit zu Wort kommen zu lassen, womit schon rein äußerlich die besten Voraussetzungen für lebendige und konstruktive Diskussionen angelegt wurden.
Nach Severin Maria Wiemer und Ludwig Wismeyer übernahm Bernhard Bosse im Jahre 1968 selbst die Chefredaktion. Die damalige politische Situation spiegelte sich in der nmz in teils sehr kontroversen Meinungsäußerungen und einer zunehmenden Bandbreite an behandelten Themen. Da wurden schwere Geschütze gegen die traditionelle bürgerliche Musikkultur aufgefahren und eine Umfunktionierung musikalischer Veranstaltungen in politische diskutiert.
Bosse engagierte sich aber auch mit großer Energie in seinem unmittelbaren Lebensumfeld, der Stadt Regensburg. In Zeiten, in denen eine autobahnmäßige Erschließung der Innenstadt auf der Tagesordnung der Stadtplaner stand und unter Sanierung nicht selten Abriß und unsensibler Neubau verstanden wurde, gehörte Bernhard Bosse als stellvertretender Vorsitzender der Altstadtfreunde zu einem Kreis, der entscheidend dazu beigetragen hat, das historische Zentrum vor dem Ruin zu bewahren. Eine wundervolle Idee verwirklichte Bosse in Verbindung mit dem Stadttheater. Unter dem Namen Theater der Jugend schuf er ein Projekt, das spezielle Schüler-Aboreihen organisierte und interessierten Jugendlichen die Möglichkeit bot, sich als Kritiker der besuchten Vorstellungen zu betätigen. Hierfür standen in einer Regensburger Lokalausgabe der Musikalischen Jugend zwei mit Theater der Jugend betitelte Seiten zur Verfügung, in denen von Schülern mitunter regionale Kulturkämpfe ausgefochten wurden. Die Besucherorganisation gibt es unter anderem Dach bis heute, doch überlebte das ambitionierte Zeitungsprojekt, das durch eine Koppelung an das Theaterabonnement eine Auflagenhöhe von bis zu 1600 Stück erreichte, nur einige Jahre.
Unter den Schülern, die in den Theater der Jugend-Seiten ihre „ersten schriftstellerischen Kritikerschritte“ wagten befand sich auch Theo Geißler. Seit 1968 war er zunächst als Autor, dann parallel zum Studium zunehmend als Redakteur mit der Zeitung befaßt. Inzwischen war der Anteil der Mitteilungen aus verschiedenen Musikverbänden, die die Zeitung als ihr offizielles Organ nutzten so weit angewachsen, daß man sich 1969 für eine Umbenennung in den heutigen Namen neue musikzeitung entschloß. 1986 übernahm Theo Geißler den Posten des Chefredakteurs der nmz und im folgenden Jahr die Leitung der Bosse Verlages, der zwar bereits im Jahre 1956 an Bärenreiter in Kassel verkauft worden war, aber als eigenständiges Tochterunternehmen von Bernhard Bosse weitgehend souverän weitergeführt werden konnte. Geißler versuchte eine Vielzahl neuer Ideen innerhalb des Verlages umzusetzten, die nicht immer auf die Gegenliebe des Mutterunternehmens stießen, was im Jahre 1993 zu einem einschneidenden Ereignis in der Verlagsgeschichte führte. Zusammen mit seinem Partner Felix Maria Roehl kaufte Geißler die nmz aus dem Bosse Verlag heraus, der nun endgültig von seinem traditionellen Sitz in Regensburg nach Kassel abwanderte. Um die nmz herum wurde mit der ConBrio Verlagsgesellschaft ein eigenes kleines Verlagsunternehmen aufgebaut, das seinen Schwerpunkt im pädagogischen Bereich finden sollte. Mit dem neu gegründeten Accent Verlag erfüllte man sich vorübergehend zudem den Traum von einem Verlag für Neue Musik.
Heute konzentriert man sich bei ConBrio auf die Kernkompetenz des Zeitschriftenmachens. Zentrum des Unternehmens ist nach wie vor die neue musikzeitung, die zusammen mit den eingangs aufgezählten Periodika des Verlages die inhaltliche Basis für ein profiliertes Buchprogramm bilden. Ulrich Dibelius brachte unlängst das tägliche Handwerk der Redakteure der nmz folgendermaßen auf den Punkt: „Geschehnisse begleiten, auf Neues aufmerksam machen, Mißstände ausforschen, auf Abhilfe sinnen und Wege in die Zukunft zeigen.“ Neben der Betreuung von Musikverbänden steht vor allem das kulturpolitische Engagement im Vordergrund. Zu den großen aktuellen Dauerbrennern gehört die Kritik an Einsparungsmaßnahmen bei der Musikerziehung und in der Theaterlandschaft, die Lage der Musikwirtschaft mit ihren Problemen beim Schutz von Urheberrechten oder die Debatte über die Zukunft der Neuen Musik, die gerade wieder im Zusammenhang mit Angriffen auf die Institution „Donaueschingen“ mit großer Leidenschaft auf den Seiten der Zeitung ausgetragen wird.
Selbstverständlich ist die nmz auch im Internet mit einer ausgezeichnet angelegten Präsentation und einem hervorragend erschlossenen Archiv vertreten (http://www.nmz.de/). Ungewöhnlicher ist da schon eher die Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk: Während Spiegel, Stern, SZ und NZZ Sendeplätze bei privaten Fernsehstationen belegen, geht die nmz jeden ersten Freitag im Monat um 20:05 Uhr in Bayern2Radio mit dem Musikmagazin taktlos live auf Sendung. Jede Ausgabe hat ein zentrales Thema (meist aus der Musik- bzw. Kulturpolitik) über das in einer Runde geladener Gäste diskutiert wird. Zur Auflockerung werden in die Programme kabarettistische Nummern, die scharfzüngigen taktlos-Nachrichten und natürlich live-Musik eingeflochten. Im Februar wurde bereits die 50. Sendung in den Äther geschickt; am 3. Mai steht der 50. Geburtstag der nmz im Mittelpunkt der 53. Ausgabe, die diesmal aus dem Lokschuppen in Regensburg kommt.
„Nun sind wir hier im Süden von der Stadt durch einen Hügel getrennt und schauen gelegentlich sehnsüchtig über das wunderbare Dächermosaik; aber es fehlt uns eigentlich die richtige Anbindung.“ Theo Geißler hat ein recht zwiespältiges Verhältnis zu Regensburg. Er lebt nach wie vor in dem stilvollen ehemaligen Verlagsgebäude in der Von-der-Tann-Staße und fühlt sich in der Stadt an sich sehr wohl. Doch fand er bislang für die kulturpolitischen Ansätze und Projekte, die er in der Stadt auf den Weg bringen wollte, keinen fruchtbaren Boden. Zwar seien die Verlagsprodukte auf einen überregionalen Markt ausgerichtet, doch hält er es für eine notwendige Sache, wieder einen Fuß auf heimischen Boden zu bekommen. Doch bislang fehlten in der Stadt die geeigneten „Andockstationen“.
Geißler nennt vor allem zwei Felder, die ihn bezüglich einer Zusammenarbeit mit regionalen Partnern interessieren würden. Das eine wäre naheliegenderweise die Musikpädagogik, und die Hochschulausbildung, wo er im Zusammenhang mit den Entwicklungen um die Hochschule für Katholische Kirchenmusik und Musikpädagogik durchaus Potential sieht. Die erste konstruktive Zusammenarbeit seit vielen Jahren habe mit dem Regensburger Kongress „Musik – Neue Medien – Bildung“ (veranstaltet vom Deutschen Musikrat und der Stadt Regensburg, organisiert von der Fachakademie für Kirchenmusik Regensburg) am 5. und 6. Oktober des vergangenen Jahres auch in diesem Bereich gelegen. „Bei einer derartigen Deckungsgleichheit der Themen lag es für die neue musikzeitung (nicht nur geografisch) nahe, diese Kongresspremiere als Medienpartner aktiv mit einem Dossier zu unterstützen.“
Weniger Hoffnung hat Geißler in dem anderen Bereich, der ihm sehr am Herzen liegt: der Neuen Musik. Regensburg sei in diesbezüglich ein „maustoter Laden“. Geisler, der in dieser Sache schon viel Zeit und Nerven investiert hat, spricht aus Erfahrung: ungern erinnert er sich an ein gut beworbenes Konzert mit Neuer Musik, das er im Leeren Beutel veranstaltet hatte und abzüglich der Verlagsmitarbeiter gerade mal von vier Zuhörern besucht wurde.
Wesentlich trauriger und ärgerlicher aber war das Scheitern des hochambitionierten Projektes Kammeroper 90. Im Rahmen eines Vereines versuchte Theo Geißler zusammen mit einer Gruppe von Idealisten „eine kleine Schwester der großspurigen Oper“ durch Kompositionsaufträge zu fördern. Der Komponist Franz Hummel hatte damals in einem flammenden „Plädoyer für die Regensburger Kammeroper“ auf die Stärken des Genres hingewiesen: „Sie hat es sich geleistet, zeitrelevante Themen ebenso brisant wie aktuell zu reflektieren, Kontroverses ohne Angst vor Machverlust und abgesichert durch die Freiheit, die ihre kleinere Besetzung in vieler Hinsicht bietet, mit einer Radikalität auf die Bühne zu stellen, die es seit Monteverdi nicht mehr gegeben hat.“ Man hatte für den ersten Kompositionsauftrag einen Stoff ausgewählt, der geeignet war, ein Stück Regensburger Stadtgeschichte aufzuarbeiten: die bereits von Ödön von Horváth zu einem Theaterstück verarbeitete Geschichte der Elli Maldaque. Franz Hummel, der die Musik zu dem Libretto von Elisabeth Gutjahr schrieb, hatte das Projekt angeschoben und letztlich auch zur Realisierung gebracht – doch leider nicht in Regensburg. Die Uraufführung der Kammeroper mit dem Titel „An der schönen blauen Donau“ fand im November 1993 in Klagenfurt statt, nachdem es in Regensburg nicht gelungen war, in Zusammenarbeit mit dem Theater oder in freier Finanzierung das Stück auf die Bühne zu bringen. Ein ähnliches Schicksal erfuhr auch das von Verein Kammeroper 90 unterstützte Shoah-Projekt von Peter Michael Hamel, für das man bereits das Velodrom (im Zustand vor der Sanierung) als stimmigen Aufführungsort ausersehen hatte. Das Opernprojekt wanderte jedoch nach Koblenz ab, wo es 1996 bei den Festungsspielen seine erste Aufführung erfuhr. Immerhin wurde Hummels „An der schönen blauen Donau“ mit einigen Jahren Verspätung im November 1999 im Bezirksklinikum Karthaus sozusagen am Originalschauplatz vom Theater Regensburg doch noch realisiert, allerdings zu einem Zeitpunkt, als der Verein bereits resigniert aufgegeben hatte.
Für Geißler charakterisiert die Tatsache, dass man damals an den Widerständen gescheitert sei, sich mit dem für die Stadt nicht gerade schmeichelhaften Stoff auseinanderzusetzen, die kulturelle Situation Regensburgs. Man verliere nach solchen Erfahrungen zwar nicht die Lust, doch setze man dann eben andere Prioritäten, etwa bei neuen Zeitschriftenprojekten, wo die Energie möglicherweise sinnvoller investiert werde. Wahrscheinlich müsse man nur etwas Geduld haben: den Zenit der primär an der Förderung des Tourismus orientierten Eventkultur sieht Geißler in Regensburg bereits als überschritten. Den Versuch, ein Mini-Verona ohne „eigenen Stallgeruch“ in der Altstadt zu inszenieren und zusammen mit anderen Massenveranstaltungen als offizielle Stadtkultur zu verkaufen, hält er für wenig förderlich. All dies habe weder Traditions- noch Innovationspotential, beides Voraussetzungen für einen Schritt in die kulturelle Zukunft der Stadt.
Die unablässigen Aufrufe des Kulturreferenten, innerhalb der Stadt die Synergie-Effekte zu bündeln, sollten die nmz als streitbares, anspruchsvolles und sehr potentes Unternehmen in Sachen Musikkultur wieder verstärkt ins Bewußtsein der Regensburger bringen. Theo Geißler würde sich jedenfalls freuen, wenn die neue musikzeitung, die den Namen Regensburg immerhin 22.000 mal pro Ausgabe in die Republik trägt, auch in der Stadt wieder ihr know-how und ihre internationalen Kontakte mit geeigneten Partnern und Projekten konstruktiv einbringen könnte.
Literatur:
• Bernhard Bosse: Jeunesses musicales – Musikalische Jugend – Musik als Tagesereignis, in: Regensburger Almanach 1994, hrsg. von E. Emmerig u. K. M. Färber, Regensburg 1993, S. 52–60
• Ulrich Dibelius: Dem Aktuellen auf der Spur. 30 Jahre Neue Musikzeitung, Regensburg 1981
• Ders.: Promptes Echo – offene Töne. 50 Jahre Neue Musikzeitung, Radiosendung vom 2. Februar 2002 in Bayern2Radio
• Franz Hummel: Goliath hat seine Zukunft verspielt. Plädoyer für die Regensburger Kammeroper, in: Regensburger Almanach 1994, hrsg. von E. Emmerig u. K. M. Färber, Regensburg 1993, S. 128–131