Thomas Emmerig
Felix Hoerburger, der Komponist – aus Anlaß seines 85. Geburtstags
Der Komponist Felix Hoerburger (1916–1997) stand zeitlebens im Schatten des Musikwissenschaftlers, der auf seinem beruflichen Weg als Musikethnologe und Volksmusikforscher weltweite Bekanntheit erlangte, aber auch des sprachschöpferischen und sprachspielenden Dichters, dessen „fremdes, verfremdendes, entfremdendes, gar befremdendes Schrifttum“ (Christopher J. Wickham) früh begann und erst spät entdeckt wurde. Felix Hoerburger arbeitete von 1947 bis 1968 am Institut für Musikforschung der Philosophisch Theologischen Hochschule Regensburg. Von 1968 bis 1979 lehrte er als außerplanmäßiger Professor an der Universität Regensburg. In den Jahren 1952 bis 1976 führten ihn zahlreiche Forschungsreisen nach Südosteuropa und Asien. Dabei hätte doch alles ganz anders kommen können. Nicht nur hatte sich der Komponist viel vorgenommen, es gab auch eine Zeit, da er offenbar alle Chancen auf Erfolg besaß.
Bereits in ganz jungen Jahren schrieb er seine ersten Kompositionen. In die Gymnasialzeit 1927–1937 fällt nicht nur der Beginn seines erhaltenen Œuvres, sondern mit immerhin 40 Prozent der überlieferten Werke auch der erste quantitative Schwerpunkt seines Schaffens.
Der junge Hoerburger strebte ein Kompositionsstudium an und begann damit noch während seiner Schulzeit bei Cesar Bresgen. Die Jahre 1936/37 brachten mit einer Violinsonate, einem Klaviertrio und einer Serenade für Streichquartett eine erste „Entfaltung“ seines Werkes. Die Reinschrift der Serenade trägt den Vermerk: „Aus Mangel an Zeit wurde diese Serenade nur sehr flüchtig skizziert. Sie wurde eine Woche vor dem Beginn des Arbeitsdienstes begonnen.“
Nach dem Abitur im Jahre 1937 setzte Hoerburger, der ab diesem Jahr Musikwissenschaft studierte, seine Ausbildung als Nebenstudium an der Münchner Musikhochschule zunächst bei Joseph Haas und später bei Carl Orff fort. Damit dürften vermutlich die Entstehung u.a. der Klaviersonate von 1938, der zweiten Violinsonate und des Streichquartetts von 1939 zusammenhängen. Die im Januar 1939 entstandene Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier, die Paul Hindemith alle Ehre gemacht hätte, erlebte ihre Uraufführung am 11. Februar jenes Jahres in der großen Aula der Universität München durch Franz Deuber und Karl Wingler.
Das erhaltene Œuvre Hoerburgers umfaßt 67 Kompositionen. Entstanden sind sie nach einem „Auftakt“ im Jahre 1932 im wesentlichen zwischen 1934 und 1943. Später folgten zwei Kompositionen im Jahre 1946 und nach langer Pause nochmals fünfzehn Werke zwischen 1959 und 1962. Als der Wissenschaftler Hoerburger 1941 bei Rudolf von Ficker promovierte, hatte er seine Zeit als Komponist also bereits weitgehend hinter sich. Die Werkstatistik weist mit neunzehn Klavier- bzw. Cembalowerken, achtzehn Kammermusiken, dreizehn Orgelwerken, zehn Liedern bzw. Liederzyklen sowie vier Orchester- und drei Chorwerken deutliche Schwerpunkte aus.
Im Herbst 1935 entwarf Felix Hoerburger ein großangelegtes Werk, das er als „kontrapunktische Utopie“ bezeichnete und mit dem Titel Kunst der Version überschrieb. Über den gedanklichen Auslöser, der ihn zu dieser bemerkenswerten Studie anregte, kann es keinen Zweifel geben. In einem Vorwort zu seinem ersten Entwurf schrieb er:
„Der Gedanke, ein Thema nicht nur um seine horizontale, sondern auch um seine vertikale Achse zu wenden, ist nicht neu. Diese zweite Art der Version wird z.B. gelegentlich im Kanon (Krebskanon) angewandt. Auch die Version um beide Achsen zugleich ist aus dem Musikalischen Opfer und anderen Beispielen zur Genüge bekannt. Doch wurde es noch nicht unternommen, alle vier Versionen in einen logischen Zusammenhang zu bringen.
Durch das Studium von Bachs Kunst der Fuge wurde ich angeregt, diese wichtige Arbeit in Angriff zu nehmen. Die Kunst der Version ist in erster Linie eine kontrapunktische Studie. Insbesondere glaube ich kaum, daß der zweite Teil mit seinem Kontrapunctus XI noch als musikalische Kunst betrachtet werden kann; aus diesem Grunde nenne ich den Versuch ,kontrapunktische Utopie‘. [...]
Daß die Kunst der Version jemals vollendet werden kann, oder wann, daß ein Contrapunct XI noch als Kunst angesprochen werden kann, glaube ich kaum. Aus diesem Grunde spreche ich von einer ,kontrapunktischen Utopie‘.“
Dem letzten Absatz dieses Vorworts entspricht die Tatsache, daß das geplante Werk nur als Fragment überliefert ist. Die erhaltene Reinschrift, die der Komponist „dem Andenken meines lieben Vaters“ widmete, enthält neben dem ersten Teil des Vorworts eine „Übersicht der vier Versionen des Themas“ sowie den Contrapunctus I, ein Fragment des Contrapunctus V sowie als Anhang ein Fragment von Contrapunctus II. Dann folgen noch eine „Thematische Inhaltsübersicht“ und die „Bezeichnungen der zwölf Contrapuncte“.
Auffällig ist Hoerburgers Vorliebe für Texte von Christian Morgenstern. So trägt bereits die erste Violinsonate von 1936 als Motto einige Verse dieses Dichters, und zwischen 1938 und 1940 entstanden fünf Lieder bzw. Liederzyklen: widibumster, widibumster. Ein Kinderliederbuch (1938), Lebensbilder. Ein Liederbuch (1939), Quellen des Lebens. Feierlicher Gesang (1939), Korf und Palmström wetteifern in Notturnos (ca. 1939), Wintermondnächte. Drei Lieder (1940). Nur vereinzelt wählte der Komponist dagegen Texte anderer Autoren wie Peter Stangl, Matthias Claudius u.a.
Sicher wird es Aufführungen und nachfolgende Publikumsreaktionen auf Hoerburgers Musik gegeben haben. Leider ist darüber nichts bekannt. Erhalten blieb anscheinend nur ein einziges Konzertprogramm zu einer „Geistlichen Abendmusik“, die nach der Maiandacht am 25. Mai 1941 in der Pfarrkirche Balzhausen stattfand: Zwischen je zwei Arien von Johann Sebastian Bach bzw. Georg Friedrich Händel, dem dritten der Vier ernsten Gesänge op. 121 von Johannes Brahms und einem Lied von Ludwig van Beethoven mit dem Baßbariton Ernst Dauscher spielte der Organist Felix Hoerburger neben einem Präludium von Bach und einer Toccata von Johann Pachelbel die (nicht als solche bezeichnete) Uraufführung seiner eigenen drei Orgelsprüche, die erst eine Woche zuvor am 18. Mai entstanden waren.
Nach dem Krieg legte der Komponist Felix Hoerburger eine schöpferische Pause von vielen Jahren Dauer ein. Im März 1959 schrieb er seine 2. Sonatine für Altflöte und ein Tasteninstrument, die er der Flötistin Hildegard Dennerlein widmete. Sie wird also der Auslöser für die Wiederaufnahme des kompositorischen Schaffens gewesen sein. Gleichzeitig ist diese Sonatine das erste Werk einer ganzen Reihe, das für eine Alternativbesetzung mit einer Bratsche angelegt ist; Lisa Hoerburger, die Frau des Komponisten, war die Bratschistin. In diesen Werken fand der Komponist offensichtlich auch eine Möglichkeit, Einflüsse aus der Arbeit des Volksmusikforschers umzusetzen und zu verarbeiten.
Aus den letzten Werken, die der Komponist schrieb, schaut deutlich der Musikhistoriker hervor, daran lassen die Titelformulierungen keinen Zweifel:
New Frewdigmachendes Prebrunner Hauß-Gesang-Buch, Das ist, Geistliche Lieder, von Christlichen und Trostreichen Texten, etliche auff die fürnembsten Fest des Jahrs, nebst Gelegenheiten des Tags und eines Gottgefelligen Lebens, so in einer Christlichen Familie pflegen gesungen zu werden, mit vier Stimmen gesätzet und componiret von Felix Hoerburger (Castellanus) zu Prebrunn im Jahr 1961.
Newes Frewdenbringendes musicalisches Zier- und Wurzgärtlein, zur Ergetzung unt Erbawung wolmeynender christlicher Gemüther gesätzet unt componiret durch Felix Castellanus, musicus poeticus atque vir eminentissimus auß der heil. röm. Reÿchs famöser unt freÿer Statt Regenspurgkh a. Di. 1762.
Enthält das erstgenannte Werk acht kurze vierstimmige Chorsätze auf traditionelle Melodien und Texte, so lassen die beiden vorliegenden Sonaten für Flauto dolce und Clavicembalo die Absicht hinter dem wohlformulierten Titel des zweiten Werkes erkennen.
Dann aber muß irgendetwas den Komponisten daran gehindert haben, sein kompositorisches Werk weiterzuführen. Tatsache ist, daß sein Œuvre im Jahre 1962 ziemlich unvermittelt abbricht; einige Werke aus der letzten Zeit blieben offenbar Fragment. Vielleicht war es für den Komponisten selbst jedoch kein Ende, sondern nur ein Wechsel des künstlerischen Mediums: weg von der Musik hin zur Sprache, ohne daß das in seiner eigenen Sicht einen wirklichen strengen Gegensatz bedeutet hätte. Mehrere Parallelen fallen auf (vgl. zum Folgenden Christopher J. Wickham, „Postmodern Mundart. Zum Schnubiglbaierisch des Felix Hoerburger“, in: „... im Gefüge der Sprachen“. Studien zu System und Soziologie der Dialekte, hg. von Rüdiger Harnisch u.a., Stuttgart 1995, S. 219–236):
1. In beiden Sparten begann er früh. Bekannt ist, daß die erkennbaren Wurzeln des Umgangs mit der Sprache bis in seine Studienzeit zurückreichen, als er etwa eine Abhandlung über die Musikalische Tropfenform und eine Muß-ick-Geschichte verfaßte.
2. Einen gewissen Zug zur Systematik wird man seinem musikalischen Werk mit seiner Entwicklung von der Ausschließlichkeit der Klavier- und Orgelmusik bis 1936 mit dem Einschub des großen Projekts der Kunst der Version von 1935 über die Duos, Trios, Quartette und Lieder mit vereinzelt eingeworfenen Orchesterwerken bis zu einem letzten „Ausbruch“ in den Jahren 1960–1962 nicht absprechen können. In seinem literarischen Werk „ist klar ersichtlich, daß seine Wort- und Klangspiele keineswegs unsystematisch sind und daß wiederholte Nonsens-Bildungen konsequent den gleichen Bezug beibehalten sollen“ (S. 224f.).
3. Musikalischer Witz oder bayerischer Humor bestimmt den einen Bereich seines Schaffens ebenso wie den anderen. Christopher J. Wickham benennt als Beispiel die Große Super Fakten Kantate für zwei Massenchöre mit ihren Angaben zur musikalischen Interpretation (S. 226).
4. Sowohl das musikalische als auch das literarische Œuvre basieren entscheidend auf dem Werk, den Erkenntnissen und dem Erleben des weitgereisten Musikethnologen und Volksmusikforschers Hoerburger. „Obwohl die Vorarbeit der Volkskultur einen großen Anteil [seines] Schaffens möglich macht, trägt die geisteswissenschaftliche Bildung des Musikprofessors Wesentliches zur philosophischen, sprachlichen und spielerischen Gestalt bei“ (S. 229). Vielleicht glaubte er, im Medium der Sprache seinem angestrebten Ideal, das nur er selbst kannte, näherkommen zu können als in seiner eigenen Musik.
5. Festzuhalten bleibt: Musikalisch wie literarisch knüpft Hoerburger an die Avantgarde seiner Zeit an. Er geht aus in der Musik von Cesar Bresgen, Joseph Haas, Carl Orff, Richard Strauss sowie Paul Hindemith und bevorzugt Gedichte von Christian Morgenstern als Liedtexte. Er geht aus in der Literatur von Karl Valentin, Carl Orff, Christian Morgenstern und dem chinesischen Philosophen Laotse, aber auch von Kurt Schwitters, Ernst Jandl, Eugen Gomringer und der Wiener Gruppe. „Doch situiert sich Hoerburger an einen höchst eigenen ästhetischen Schnittpunkt [...]“ (S. 228).
Wie lange seine Musik gespielt wurde und wie lange sie im Bewußtsein auch des Komponisten selbst lebendig blieb, wissen wir nicht. Tatsache ist aber, daß das musikalische Œuvre Felix Hoerburgers nicht zuletzt deshalb lange Zeit verborgen blieb, weil der Komponist sich energisch gegen jedes Interesse wehrte. Das änderte sich erst um die Zeit seines 60. Geburtstags. So konnte am 9. November 1976 in Regensburg seine Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier (1939) aufgeführt werden. Die Ausführenden waren Tibor Jonas, Violine, und Felix Bronner, Klavier. Über diese Aufführung schrieb Franz A. Stein in der Mittelbayerischen Zeitung am 11. November 1976: „Felix Hoerburger, in Regers Todesjahr geboren, hat 1939 eine 2. Sonate für Violine und Klavier komponiert, die dieser musikalisch nachjugendbewegten Zeit und ihrem Großpaladin Hindemith alle Ehre gemacht hätte, ja, was den bayerischen Humor in diesem kurzweiligen Stück ausmacht, übertrifft sie diesen. Es war eine echte Gemütsergötzung, den Musikforscher als Komponisten erlebt zu haben.“
In den folgenden Jahren änderte sich die Einstellung des Komponisten zu seinem Werk grundlegend. Jetzt hätte er es am liebsten allerorten gespielt und durch den Druck verbreitet gewußt. Dafür aber war es jetzt zu spät. Der Komponist war ebensowenig bekannt wie sein Werk. Der Name des Musikethnologen und Volksmusikforschers Felix Hoerburger dagegen war längst weltweit ein Begriff geworden. Und im Jahre 1975 wurde der sprachschöpferische und sprachspielende Dichter Felix Hoerburger mit seinem „fremden, verfremdenden, entfremdenden, gar befremdenden Schrifttum“ entdeckt. Wer von ihnen am Ende bleiben wird, darüber werden spätere Generationen entscheiden.