David Hiley
Die Historia Sancti Wolfgangi des Hermannus Contractus
Des großen Schalls sind wir ein Teil,
Eine Stimme in Gottes Choral,
Unwissend was sein Wesen.
So singen kurz vor dem Ende der am 11. August 1957 uraufgeführten Oper Die Harmonie der Welt von Paul Hindemith die Hauptdarsteller: Erde (Johannes Kepler), Mond (Katharina, Keplers Mutter), Sol (Kaiser Ferdinand II.), Venus (Susanna, Keplers Frau), Merkur (Pfarrer Daniel Hizler), Mars (Ulrich Grüßer, Keplers Gehilfe), Jupiter (Wallenstein) und Saturn (Tansur). Daß es eine Weltharmonie geben könnte – wie etwa eine Sphärenharmonie musikalischer Intervalle, die zwischen den sieben beweglichen Sternen, während ihres Laufs und ihres Reigens um die Erde erklingen –, diese Idee war in den 1950er Jahren, als Hindemith das Libretto für seine Oper schuf, gewiß nicht neu, auch nicht in der Zeit von Johannes Kepler (am 15. November 1630 in Regensburg gestorben). Und sie scheint zu einer blühenden Zukunft prädestinert, liest man doch in einem der großen Renner der Fantasieliteratur unserer Zeit, dem Silmarillion von J. R. R. Tolkien, gleich im 1. Kapitel, wie am Beginn der Zeit die Ainur, die Heiligen, aus dem von Ilúvatar gegebenen Thema große Musik erschaffen (Hoffentlich kommt es nicht ins Kino):
„Alsdann begannen die Stimmen der Ainur, gleich wie Harfen und Lauten, Pfeifen und Trompeten, und Gamben und Orgeln, und gleich wie unzählige Chöre, die mit Worten sangen, das Thema des Ilúvatar zu einer großen Musik zu gestalten; und es erhob sich ein Klang aus endlosen ineinandergreifenden Melodien, in eine Harmonie gewoben, die jenseits allen Hörens in die Tiefen und in die Höhen fortging.“
Tolkien war sich selbstverständlich der Herkunft des von ihm neu gestalteten Mythos bewußt – nicht so sehr aus der angelsächsischen und altenglischen Literatur, seinem wissenschaftlichen Fachgebiet, sondern aus der Bibel, deren Sprache Tolkien hier nachamt: „du hast alles geordenet mit mas zal vnd gewicht“ (Luther-Bibel 1545: Weish 11, 21), oder auch „Wo warestu da ich die Erden gründet? [...] Da mich die Morgensterne mit einander lobeten vnd jauchzeten alle kinder Gottes“ (Hi 38, 4
7). Dagegen verlief die Schöpfung der Welt nach Platons Timaios eher klanglos, obwohl sie genauen harmonischen Proportionen folgte.Nach diesem Präludium wollen wir jedoch dem Tanz der Zeit in eine andere Epoche folgen, weiter als Kepler, aber nicht so weit wie Platon zurückliegend, ins 11. Jahrhundert. Heuer vor 950 Jahren fand in Regensburg ein ganz besonderes musikalisches Ereignis statt: die Uraufführung neuer Gesänge zu Ehren des hl. Bischofs Wolfgang anläßlich seiner Heiligsprechung durch Papst Leo IX. Was dieses Ereignis mit den obigen Bemerkungen zur Harmonie der Welt verbindet, ist die Tatsache, daß die Gesänge vom Mathematiker, Astronom, Musiktheoretiker, Instrumentenbauer, Chronometriker und Chronist Hermannus Contractus, Herman dem Lahmen, Mönch an der Reichenau am Bodensee komponiert wurden. Daß Herman seine Gesänge als klangliche Darstellung der himmlischen Harmonie verstand, wird sich unten zeigen. Zunächst aber soll der geschichtliche Hintergrund kurz skizziert werden.
Wolfgang wurde um 924 geboren und u.a. in der Klosterschule an der Reichenau unterrichtet. Im Jahre 965, zu dem Zeitpunkt, als sich ihm eine glänzende Karriere im Staatsdienst anbot, entschied er sich für den Eintritt ins strenge Benediktinerkloster Einsiedeln. Ab 972 Bischof von Regensburg, setzte er in St. Emmeram eine neue Ordnung durch, indem er die bisherige Personalunion der Regensburger Bischofswürde und der Emmeramer Abtswürde aufhob, was die Unabhängigkeit des Klosters gegenüber der Diözese sichern sollte. Er reformierte die Nonnenklöster Nieder- und Obermünster und gründete das Mittelmünster als Musterbeispiel eines Nonnenkloster. (Daß diese Reformen letztendlich scheiterten, mag dahingestellt bleiben.) Im Jahre 994 ist er gestorben. Als Reformator blieb er nicht allein in Regensburg lebhaft in Erinnerung, denn die Maßnahmen, die er in Regensburg ergriff, waren sämtlich Zeichen für einen Reformgeist, der Mitte des nächsten Jahrhunderts von überragender Bedeutung werden sollte, als der fromme Heinrich III. (1039–56) die Kaiserwürde trug. Dessen Reformwille zeigte sich in der Absetzung dreier Päpste bei der Synode von Sutri. 1049 hebt Heinrich mit Bruno von Egisheim, dem Bischof von Toul, einen Reformator auf den Apostolischen Stuhl, wo dieser bis 1054 als Leo IX. regierte. Bruno/Leo ist als Autor von Kirchengesängen zu Ehren mehrerer Heiligen bekannt. Es sind die Historiae (so nennt man den Zyklus an Gesängen für die Gebetsstunden am Festtag eines Heiligen) für den größten Vorgänger und legendären Autor des Kirchengesangs schlechthin Gregor I., für den hl. Gorgonius (dessen Reliquien in Gorze bei Metz verehrt wurden) und für den hl. Hidulphus v. Moyenmoutier und St.-Dié (Vogesen). 1049 hielt sich Leo an der Reichenau auf, wie Hermannus Contractus in seiner Weltchronik schreibt: „Er besuchte Alemannien und beging in Reichenau das Fest des heiligen Klemens [23. November] und den Sonntag vor Advent, den 26. November.“ Bei dieser Gelegenheit hat man vermutlich das ‚Projekt Wolfgang‘ lanciert. Die Symbolfigur des Reformers Wolfgang soll kanonisiert werden, Hermann wird eine neue Historia des Heiligen schreiben. Für die Texte der acht Lektionen, die während des langen Nachtoffiziums vorzutragen sind, würde man sich gewöhnlich auf die Vita des Heiligen stützen, die Geschichte seines vorbildlichen Lebens, seines erbaulichen Todes und der Wunder, die sich nach seinem Tode ereigneten. Eigentlich wäre auch eine neue Vita angebracht, da die alte nicht auf dem höchsten literarischen Niveau steht. Als Autor wäre wohl der Mönch Otloh von St. Emmeram in Regensburg (dessen schriftstellerische Kreativität wir anläßlich der gerade im selben Jahr 1049 erfolgten ‚Entdeckung‘ der Reliquien des hl. Dionysius kennen) der richtige Mann.
Wie es sich letzlich abgespielt hat, läßt sich nicht genau beweisen. Otloh hat eine Vita verfasst, Hermannus hat Gesänge komponiert. Über den genauen Zeitpunkt der Kompositionen sind wir nicht informiert (aber Hermannus ist 1054 gestorben). Daß das alles im November 1049 in der Reichenau geplant wurde, bleibt eine Hypothese, aber denkbar ist es.
Reichenau und Regensburg, oder genauer gesagt, das Inselkloster im Bodensee und das Kloster St. Emmeram, liegen ziemlich weit voneinander entfernt. Hermannus ist sicher nicht nach Regensburg gekommen, um seine Arbeit vorzubereiten. Seit der Geburt gelähmt, vermutlich infolge der Little’schen Krankheit, mußte er in einem Sessel getragen werden. Laut seinem Schüler Berthold waren „seine Gliedmassen alle auf so grausame Weise versteift, daß er sich von einer Stelle, auf die man ihn niedersetzte, nicht wieder ohne Hilfe wegbewegen konnte. Er vermochte sich auch nicht auf die eine oder andere Seite zu drehen.“ Also auch in dieser Hinsicht ein Stephen Hawking seiner Zeit. Es sollte jedoch nicht erstaunen, daß die in Regensburg aufzuführende Wolfgang-Historia von einem Mönch im Kloster am Bodensee geschrieben wurde. Eine enge Verbindung zwischen St. Emmeram in Regensburg und der Reichenau bestand mindestens seit 1030, als der Reichenauer Mönch Burchard (Burkhard, Purchard) Abt von St. Emmeram wurde. Burchard war zudem als Kantor an der Reichenau einer der führenden Musiker im Kloster. Der große Abt Bern von Reichenau (1008–1048) erwähnt ihn als denjenigen, der ihn (Bern) aufforderte, ein Tonar zu verfassen. (Das Vorwort ist als Brief an Purchard und Kerung und andere Lehrer der Klosterschule adressiert: „Purchardo et Kerungo, una cum caeteris in dominicarum scolarum gymnasio Augiae.“) Sicher spielte er bei der Bildung und Erziehung Hermannus’ eine Rolle. In der Mitte des Jahrhunderts war das Wissen über Hermannus’ musiktheoretische Schriften in St. Emmeram noch lebendig. Wilhelm von Hirsau, 1026 geboren, Mönch von St. Emmeram und ab 1069 Abt von Hirsau im Schwarzwald, war über die Bernsche und Hermannsche Musiklehre bestens informiert. Tatsächlich ist Wilhelms eigener Traktat über Musiktheorie einer der ganz wenigen, die die komplexeren Ideen Hermannus’ über die Struktur der Kirchentonarten aufgreifen. Wilhelm erwähnt Hermannus übrigens als „vir illustrissimus“.
Hermannus verstand die Modi, die Kirchentonarten, als Tonleiter mit Haupt- und Nebentönen. Das Konzept der Haupttöne ist eigentlich nicht so weit von der späteren Idee von Tonika und Dominante entfernt. Hermannus hat sie aber anders erklärt. Für ihn, wie für das ganze Mittelalter, gibt es vier Haupttonarten: D, E, F und G. Eine Melodie kehrt am Ende immer zu einem von vier entsprechenden Tönen (Finales, also D, E, F bzw. G) zurück. Die Modi bestehen aus Skalensegmenten, die aus diesen vier Tonarten herausgezogen werden. Der jeweils erste Ton des Segments ist (gleich wie unsere Tonika und Dominante) gleichsam eine tragende Säule der Melodie. Die höher liegenden Modi, die sog. ‚authentischen‘, beanspruchen die Töne in der Oktave oberhalb des Schlußtons. Die tiefer liegenden Modi, die ‚plagalen‘, liegen beidseits des Schlußtons. Insgesamt ergibt sich dann folgendes Bild. Die Haupttöne, die ‚tragenden Säulen‘ sind fett gedruckt (siehe Tabelle 1).
Nun ein musikalisches Beispiel: Hermannus’ Historia Sancti Wolfgangi ist ein Zyklus aus Gesängen, die während des Stundengebets – Vesper am Vorabend des Festtages, die Nokturnen des Nachtgebets, Laudes, und wieder Vesper am Ende des Tages – zu singen sind. Es sind im Falle Wolfgangs 36 Stücke, eigentlich eine ganz beachtliche Leistung: 1 Hymnus, 22 Antiphonen und 13 Responsorien. Das Notenbeispiel zeigt ein Responsorium aus dem Nachtoffizium. Weil es das 5. Responsorium ist, hat Hermannus es im 5. Modus gesetzt. Die ganze Historia ist so organisiert: Ineinander geschachtelte Reihen von Antiphonen und Responsorien sind in numerischer Folge gemäß dem Modus sortiert. Der Text erzählt aus dem Leben Wolfgangs. Der gesegnete Wolfgang, durch ein ‚Orakel‘ gestärkt (der hl. Otmar ist ihm in einer Vision erschienen) und durch das Wort Gottes gerüstet, trennt sich vom Studium im Kloster, und, nachdem er Noricum (Südbayern/Oberösterreich) durchwandert hat, betritt er eifrig die Grenzen Pannoniens (Ungarns). Die sich wiederholenden Wortendungen des Textes (‚-itur‘, und die Ablativen mit ‚-o‘) werden durch gemeinsame musikalische Kadenzen ergänzt: a–c für ‚igitur‘ und ‚fines‘; und dieselbe Kadenz um eine Quint tiefer, D–F für ‚monasterio‘ und ‚Norico‘. Dieser Wohlklang wird aber noch deutlicher unterstrichen durch die ständige Rückkehr zu den oben dargestellten Haupttönen F und c bei fast allen Wortendungen. Man kann es nachzählen: 5 Worte enden auf F, 9 auf c (der Einsilbler ‚et‘ nicht mitgerechnet, aber auch er ist mit c vertont). Zwar fehlt eine Wortendung auf dem hohen f (‚Wolfgangus‘ schießt vorbei und landet noch höher auf g), aber die Melodie durchstreift das Skalensegment mehrmals, bei ‚igitur‘, ‚studio‘, ‚alacer‘ und ‚ingreditur‘. Besonders beeindruckend ist das schöne Melisma für das letzte Wort. (Übrigens hat dies nichts mit Wortmalerei zu tun, sondern funktioniert strukturell als kulminierende Ausschmückung, etwa wie die Kadenz eines Klavierkonzertes.) Die ersten Töne stehen im Segment F–c, die nächste Phrase auf c–f; die hohe Lage wird bestätigt und sogar ergänzt durch das hohe g; dann zurück zum Hauptsegment F–c, mit Sprüngen zwischen F und c, um die harmonischen ‚Säule‘ der Melodie noch deutlicher hervorzuheben.
Das ist eine Art Melodik, die praktisch nichts mit dem ‚klassischen‘, ‚gregorianischen‘ Stil, aber sehr viel mit der Vorstellung einer von Gott gegebenen Weltharmonie zu tun hat. So wie die einzelnen Melodien diese Harmonie klanglich verkörpern, so tut dies auch der Zyklus als ganzer. Wie bereits bemerkt, schreiten die Gesänge durch alle acht Kirchentonarten der numerischen Reihe nach – wie die Sonne durch den Tierkreis, könnte man beinahe sagen, obwohl Hermannus selbst sich nicht dahingehend geäußert hat. Zu Beginn seines Musiktraktats beobachtet er lediglich, daß es sieben verschiedene Töne gibt, die sich in den verschiedenen Oktaven „nach der Art der sieben Wochentage“ („more VII septimanae dierum“) wiederholen. Als Meister der Astrolabe und Erfinder der Säulchen-Sonnenuhr lägen ihm solche Gedanken nahe. In einem anderen Sinne sind auch die lateinischen Texte zyklisch geordnet. Die Lesungen des Nachtoffiziums, die Responsoriumstexte und die Texte der Antiphonen zu Laudes erzählen chronologisch vom Leben Wolfgangs, bis in der Antiphon zum Benedictus von seinem Tod in Pupping und in der Antiphon zum Magnificat der Schlußvesper davon berichtet wird, daß Erzbischof Hartwic von Salzburg seinen Leichnam zurück nach Regensburg bringt.
In der untenstehenden Tabelle 2 wird der liturgische Zyklus der Antiphonen und Responsorien mit Angabe des Modus dargestellt. (Wir setzen Antiphonen und Responsorien leicht voneinander ab. Die Modus-Angabe steht rechts.) Zu bedenken ist, daß die Zahl und Reihenfolge der Antiphonen und Psalmen, Lesungen und Responsorien immer feststand. In diesen Rahmen mußte Hermannus’ numerische Konstruktion passen. Beide Gesangstypen bilden eine numerische Reihe für sich. So stehen die ersten sechs Antiphonen in den Modi 1 bis 6, die zweite Gruppe Antiphonen (in der zweiten Nokturn) nimmt die numerische Folge auf, indem sie mit dem 7. Modus beginnt und nach Ende der Reihe 1–8 (denn es gibt nur 8 Modi) zurück zum 1. Modus kehrt. Am Ende der Laudes-Antiphonen beginnt die numerische Folge ein drittes Mal. Ähnlich bei den Responsorien. In der Mitte der Zweiten Nokturn sieht es so aus, als ob die Responsorien die numerische Folge von den Antiphonen übernehmen. Nachdem die Responsorien alle acht Modi ‚aufgebraucht‘ haben, werden die vier ‚authentischen‘ Modi (1., 3., 5., 7.) nochmals durchgestreift. Insgesamt viermal (oder dreieinhalbmal) durch die Kirchentonarten binnen eines Tages.
Zumindest einem Anwesenden bei der Uraufführung in St. Emmeram heuer vor 950 Jahren dürfte die schöne modale Konstruktion bewußt gewesen sein: Wilhelm, dem künftigen Abt von Hirsau. Die musikalische Harmonie war dem Anlaß durchaus angemessen. Papst und Kaiser trafen dort zusammen, symbolhaft für eine wie von der Musik heraufbeschworene Eintracht zwischen weltlicher und kirchlicher Macht.
Am 7. Oktober 2002, um 19.00 Uhr, gibt es die Gelegenheit, einen Teil des Zyklus in der Basilika St. Emmeram zu hören. Gesänge sowohl aus der Wolfgang- als auch aus der Erhard-Historia werden gesungen. Freilich sind die Umstände anders als im Jahre 1052, von der damaligen Vortragspraxis wissen wir nur wenig, der Kirchenraum ist verändert, vor allem aber sind wir anders, von jener Zeit weit entfernt. Dennoch könnte ein leiser Nachhall von jener ersehnten Harmonie erklingen, die am Ende von Hindemiths Oper evoziert wird:
Möge uns doch auch die Schau in Fernen,
Die uns voll frommen Wohlklangs umgeben,
Mit Traum, Ahnung, gläubigem Gebet
Über das geringe Selbst heben,
Höher als durch Wissen, Suchen, Lernen;
Den Geist zum Geist der letzten Majestät,
Bis uns aufgehn zu lassen ihm gefällt
In seiner großen Harmonie der Welt.