Andreas Pfisterer
Zwei Regensburger Singschulen des 17. Jahrhunderts
Ist die Regensburger Kirchenmusikszene seit dem 19. Jahrhundert vor allem von der katholischen Seite geprägt, so scheint das 16. und 17. Jahrhundert eine Hoch-Zeit der evangelischen Kirchenmusik gewesen zu sein, deren Zentrum das städtische Gymnasium poeticum bildete. Davon zeugt nicht nur eine erhebliche Menge handschriftlichen wie gedruckten Notenmaterials, das in der Proske-Sammlung der Bischöflichen Zentralbibliothek erhalten ist, und eine Reihe von Komponistennamen (Buchmayr, Raselius, Homberger, Kradenthaller), sondern auch zwei in Regensburg entstandene Lehrbücher für den Elementarunterricht im Singen. Diese sollen hier im Kontext weiterer Dokumente über die Musikpflege im 17. Jahrhundert am städtischen Gymnasium und an den evangelischen Kirchen der Stadt betrachtet werden, die August Scharnagl 1979 zusammengetragen hat. Im Jahr 1654 wurde eine Schulordnung erlassen, die auf ihren Vorgängerinnen von 1595 und 1610 beruht und vor allem die institutionellen Fragen behandelt: etwa die Versorgung der 24 Alumni, d. h. der Stipendiaten, die zum Singen verpflichtet waren; die Erlaubnis für eine weitere Gruppe von 40 Schülern, sonntags und mittwochs vor den Bürgerhäusern zu singen und Geld zu sammeln. Eine ergänzende Instruktion zur Musikpflege von 1664 scheint dagegen auf aktuelle Entwicklungen einzugehen. So ist nun die Verwendung von Instrumenten „bei dem choro“ vorgesehen (jedoch so, daß „gleichwohl die Vocalmusik nicht verabsäumet gehe“). Philipp Jacob Seulin, Kantor von 1649 bis 1692, wird aufgefordert, ein im Auftrag des Rates verfaßtes Lehrbuch zu revidieren und in Druck zu geben. Als bislang gängiges Übungsmaterial werden die „Bicinia Calvisii“ und „die des Gumpelshaimers music beigefügte exempla“ genannt, also meist zweistimmige Stücke vom Ende des 16. Jahrhunderts, die in den deutschen Schulen weit verbreitet waren. 1673 wird die Synopsis Musica gedruckt, in der man vermutlich die in Auftrag gegebene Singschule des Kantors sehen kann. Nur drei Jahre später (1676) erscheint das Horologium musicum des Regensburger Organisten Hieronymus Kradenthaller (1637–1700), das geradezu als Konkurrenzwerk zur Synopsis angesehen werden kann. (Da die Synopsis keinen Verfasser nennt, haben Dominicus Mettenleiter und August Scharnagl angenommen, sie stamme ebenfalls von Kradenthaller. Dem stehen aber zahlreiche Unterschiede im Detail entgegen.) Wie die Untertitel beider Bücher zeigen, ist das wichtigste Anliegen – dies gilt ähnlich auch für die meisten derartigen Publikationen des 17. Jahrhunderts –, das Erlernen des Blattsingens zu 5 vereinfachen und zu beschleunigen. In der einen oder anderen Weise wird an dem mittelalterlichen Hilfsmittel der Solmisation herumkuriert, das durch die allgemeine Musikentwicklung nicht mehr praktikabel war. Die beiden Regensburger Beiträge verzichten zwar auf radikale Reformen, versuchen aber ein pädagogisch durchdachtes Übungsrepertoire anzubieten. Die Synopsis greift hierfür auf eine Sammlung von Bicinien des Bologneser Komponisten und Musiktheoretikers Adriano Banchieri aus dessen Schulwerk Cartella von 1601 zurück. Diese Stücke unterscheiden sich von den älteren deutschen Bicinien dadurch, daß sie weder biblische Texte noch Choralmelodien verwenden, sondern von der Tonleiter ausgehen. Die einfachere Oberstimme fällt den Schülern zu, die tiefere Begleitstimme dem Lehrer. Ansonsten folgt die Synopsis der Tradition, wie sie vor allem durch Adam Gumpelzhaimers Compendium musicae von 1591 repräsentiert wird: der sehr knapp zusammengefaßte Stoff wird in Form von Fragen und Antworten dargestellt, die dann auswendig gelernt und abgefragt werden können. Kradenthallers Buch scheint eher die Situation des Privatunterrichts widerzuspiegeln: Er erklärt dem Lehrer, was dieser dem Schüler erklären soll. In der Reduktion des alten Lehrstoffes geht er noch weiter als die Synopsis und läßt etwa die Anfänger nur die vier noch in Gebrauch befindlichen Schlüssel (Sopran, Alt, Tenor, Baß) lernen. Seine Übungsbeispiele gehen ebenfalls von der Tonleiter aus, nun aber wieder in der traditionellen Besetzung mit zwei bzw. drei Knabenstimmen, also ohne Begleitstimme für den Lehrer. Zusätzlich behandelt er das für die Organisten wichtige Thema der Transposition vom Blatt und fügt am Ende einige moderne Musikbeispiele für Solostimme und Generalbaß an. Beide Singschulen enthalten ein ausführliches Vorwort, Kradenthaller schreibt das seine selbst, das der Synopsis Musica wurde eigens von Erasmus Gruber (1609–1684), dem damaligen Regensburger Superintendenten, verfaßt, der auch für die kirchliche Schulaufsicht verantwortlich war und vermutlich schon die Instruktion von 1664 angeregt hatte. Gemeinsam ist beiden Vorworten, daß mit zahlreichen Verweisen auf Bibel und Geschichte die Würde und der Nutzen der Musik dargelegt wird; bezeichnenderweise steht bei Gruber der Kirchengesang im Vordergrund, während bei Kradenthaller Vokal- und Instrumentalmusik betont gleichwertig erscheinen. Über diesen allgemeinen Bereich hinaus benennt Gruber eine Reihe von konkreteren Forderungen an die Kantoren, die etwas Licht auf die Regensburger Kirchenmusik der Zeit werfen. Daher seien hier einige Auszüge wiedergegeben: (Die Punkte 1–3 betreffen die allgemeine Disziplin) „4. Sollen Sie auch einen feinen Delectum [Auswahl] der Gesäng und Moteten haben, nichts in der Kirch zu singen fürgeben, als Biblische Text, in der Kirch approbierte Hymnos, Lob-Gesäng, und geistreiche Lieder, und dieselbige auch fein nach der Zeit einrichten, hergegen sich der jenigen Gesäng und Text, die nicht der Schrifft gemäß, und dem Glauben ähnlich sind, sich gäntzlich entäusern, (weil man der Schrifftmässigen (Gott Lob) gnug hat, Sie seyen gleich sonsten so lieblich, und künstlich gesetzt, als Sie immer wollen, dann man hierinnen nicht so sehr auf den lieblichen Klang, als auf den Text des Gesangs zu sehen hat. 5. Sollen Sie die Sänger dazu alles Fleisses anhalten, und diese sollen auch von selbsten solches wol beobachten, daß Sie doch die Text im Singen recht deutlich und verständlich pronuncirn, und exprimirn [aussprechen und ausdrücken], und mit allzu vielen colorirn, tremulirn, quintiliren nicht verzwicken, verdrehen und unvernehmlich machen, damit doch der Zuhörer wissen möge, was gesungen wird, und sich dadurch in seiner Andacht, Geist und Christenthumb desto besser erbauen könne. Der Text und die Wort sind iedes Gesangs Leben und Seel. Spühret man im Menschen kein Leben und kein Operation [Tätigkeit] der Seelen, so ist der Mensch todt, vernimbt man kein Wort im Gesang, so ist und bleibt es ein todter Klang, Hall und Schall, der in der Lufft vergeht, und in den Ohren ersitzen bleibt, und kriegt der inwendige Mensch, Seel und Geist zu seiner Erbauung nichts davon. 6. Darumb soll auch billich in dem Lateinischen musicirn, orgeln, praeambulirn [Orgelvorspiele machen], wie auch in Symphoniis [Instrumentalstücken] ein Maß gehalten werden, daß man dessen nicht zu viel mache, und die meiste Zeit des musicirns damit unnutzlich zubringe. Es ist unlaugbar, daß in der Gemein Gottes am singen weit mehr gelegen ist, als am orgeln, pfeiffen und geigen, und haben die Heiligen bey dem Gottes-Dienst allweg mehr auf die lebendige Menschen-Stimmen gehalten, als auf den Klang der Musicalischen Instrument: Dieselbige sind in der Kirch bey dem Gesang nur ein Accessorium [Zutat], zieren und dirigiren die Stimmen, und machen Sie desto 6 durchtringender, und dienen also nur ad bene esse [zum Wohlbefinden], macht man es damit zu lang und zu viel, bringt gantze Kirchen-Actus damit zu, sonderlich bey der H. Communion, da bringen Sie mehr Schaden als Nutzen, hindern den Geist des Menschen in seiner Andacht, Gebet und Elevation [Erhebung] zu Gott mehr, als daß Sie ihn fördern, man lese hievon, was Herr Theophilus Großgebaur Prediger zu S. Jacob in Rostockh geschrieben hat, Cap. 11. seines Tractats, den er nent, Wächter-Stimme auß dem verwüsteten Zion. 1661. zu Franckfurt am Mäyn gedruckt, allwo Er eben die heutige Weise bey dem Gottes-Dienst zu musiciren, zehlt unter die Ursachen, daß die so viele Predigten, bey uns Evangelischen so wenig Frucht schaffen, dahin ich mich Kürtze halben beziehe. Ist gar nachdencklich zulesen. 7. Es dient auch viel zu rechtem nutzlichen Brauch des Singens bey dem Gottes-Dienst, daß man in der Mensur und Tact ein feine Gravität [Würde] halte, die Gesäng nicht allzugeschwind hinschlaudere, gleich als thät mans nicht gern, und wär lieber bald bey dem Ende, auch nicht gar zu langsam, sondern alles in rechter Maß, nach dem Genio und Beschaffenheit des Texts, wie es derselbe erfordert, ... 8. Endlich sollen auch alle, die da singen, oder dem Gesang zuhören alles fein mit gebührender Andacht und Aufmercken verrichten, fein dem nachdencken, was gesungen wird ...“ Literatur: Synopsis Musica. Oder Kurtzer Inhalt, Wie die Schul- Jugend kürtzlich und mit geringer Mühe in der Sing- Kunst abzurichten. Mit einem Christlichen Vor-Bericht Herrn Erasmi Gruberi, Pastoris und Superintend. in Regenspurg, Regensburg 1673 Hieronymus Gradenthaller: Horologium musicum. Treuwolgemeinter Rath, vermittelst welches ein junger Knab von neun oder zehenthalb Jahren mit Lust und geringer Mühe in kurtzer Zeit den Grund der Edlen Music und Sing-Kunst fassen kann, Regensburg 1676 Dominicus Mettenleiter: Musikgeschichte der Stadt Regensburg, Regensburg 1865 August Scharnagl: Zur Musik- und Kulturgeschichte der Stadt Regensburg im 17. Jahrhundert, in: Studien zur Musikgeschichte der Stadt Regensburg I, hg. von Hermann Beck, Regensburg 1979, S. 313–350 Verkauf Meistergeige, Horst Goldfuß, 1983 generalüberholt, bester Zustand Preis VB, Tel. (AB) 0941-84442