Michael Wackerbauer
Das Oberpfälzer Volksmusikarchiv
Reiches neobarockes Stuckdekor, eine repräsentative Fassadengliederung mit Eckturm eingebettet in eine stattlich bemessene Gartenanlage mit Brunnen und Pergola: Großbürgerlich städtisches Ambiente umgibt das Zentrum für Kultur- und Heimatpflege des Bezirks Oberpfalz in der ehemaligen Villa Weinschenk am Dörnbergpark. Auch wenn man das Anwesen in der Hoppestraße 6 betritt, verbreitet die zentrale Treppenhalle die Atmosphäre des fin de siècle – kaum vorstellbar, daß hier Trachten- und Brauchtumspflege ihren Platz haben. Weit nüchterner sieht es allerdings hinter den Türen des ersten Stockes aus, in den man gemessenen Schrittes emporwandelt. Dort hat Bezirksheimatpfleger Dr. Franz Xaver Scheuerer sein Büro und das Oberpfälzer Volksmusikarchiv seine Heimat. Auch hier ist kein Platz für Herrgottswinkel oder Zirbelstuben. Die Räume sind vollgepackt mit Bücherregalen, Schreibtischen und der üblichen Büroausstattung. Daß bei den vielfältigen Aufgabenbereichen des Bezirkskulturzentrums ein offensichtlicher Schwerpunkt bei der Volksmusikpflege liegt, läßt sich schon an der Raumbelegung und den Spezialgebieten der Mitarbeiter ablesen. Der Volkskundler und Musikwissenschaftler Johann Wax arbeitet gleich neben dem Bezirksheimatpfleger in einem Raum, der an die Bibliothek mit umfangreichen Musikbeständen grenzt. Über das ehemalige Treppenhaus für das Dienstpersonal gelangt man in das ausgebaute Mansardendach, in dem die Archivbestände zur Volksmusik untergebracht sind, betreut von Franz Schötz vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege. Die schwerpunktmäßige Beschäftigung mit der Bewahrung und Vermittlung von Volksmusik hat ihre Wurzeln in den Gründungsjahren der Institution. Als die Oberpfalz als einer der letzten bayerischen Bezirke erst im Jahre 1969 einen hauptamtlichen Heimatpfleger einsetzte, wurde mit Dr. Adolf Eichenseer ein ausgewiesener Volksmusikexperte berufen. Auf ihn geht ein großer Teil der Archivbestände zurück. Zudem war seit 1947 Felix Hoerburger als Musikethnologe am Institut für Musikforschung an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Regensburg tätig. Neben seinen Forschungsreisen auf den Balkan, nach Griechenland, Nordafrika, Afghanistan, Nepal und Taiwan etablierte er auf der Basis umfangreicher Feldforschung als einer der ersten nach dem Krieg die bayerische Volksmusik als Forschungsgegenstand. Nach Gründung der Universität Regensburg war er hier zunächst als Privatdozent und von 1971 bis 1976 als apl. Professor für Musikwissenschaft tätig. In der Region interessierte er sich vor allem für die instrumentale Volksmusik, wovon die Publikation Die Zwiefachen. Gestaltung und Umgestaltung der Tanzmelodien im nördlichen Altbayern ein viel beachtetes Zeugnis gibt. Von Hoerburgers Sammelschwerpunkt ist auch das Oberpfälzer Volksmusikarchiv maßgeblich geprägt. Kopien der von ihm notierten Melodien und Instrumentalsätze füllen einen ganzen Schrank. In einem weiteren werden in Mappen, chronologisch nach Eingang sortiert, weitere Quellen aufbewahrt, die in den letzten Jahrzehnten eingegangen sind. Als Johann Wax 1988 seine Stelle antrat, fand er noch sehr viel Material in Umzugskisten notdürftig gelagert und nur grob gesichtet vor. Zwar sei seither schon sehr viel aufgearbeitet worden, doch fertig werde man aufgrund der dünnen Personaldecke nie. Eine weitere Halbtagskraft wäre eine große Hilfe; momentan könne man jedoch nur unbezahlte Praktika anbieten. Bislang sind bereits etwa 800 Nummern in einer elektronischen Datenbank erfaßt, die von Einzelblättern bis zu voluminösen Sammlungen reichen. Entsprechend bunt ist auch der Inhalt der Archivmappen zusammengestellt. In jüngerer Zeit sind es vor allem Kopien aus Nachlässen, an die man nicht mehr so häufig und leicht herankomme wie in den Anfangsjahren. Da habe man sich noch „Schmankerl“ heraussuchen können, auf deren Sammlung man sich dann auch hauptsächlich beschränkt habe: sogenannte „Bauernhandschriften“, in denen Landler, Schottische, Polkas oder Zwiefache aufgezeichnet sind. Das sonstige Repertoire, das auch vorhanden war, wie Tangos oder Foxtrotts, habe man damals gar nicht zur Kenntnis genommen. Dabei gehörten neben den tradierten Stücken natürlich auch aktuelle „Nummern“ etwa aus beliebten Operetten zu einem attraktiven Repertoire einer erfolgreichen 8 Tanzkapelle. Der geweitete Blick auf die Realität, der nicht nur einen Ausschnitt aus der Musizierpraxis wahrhaben will, habe sich erst im Lauf der 70er und 80er Jahre allmählich verbreitet. Es sei im Oberpfälzer Volksmusikarchiv allerdings aus personellen und räumlichen Gründen nicht möglich, sich mit dem gesamten Spektrum an Musik zu beschäftigen, das von Musikanten der Region gepflegt wurde und teils noch gepflegt wird. So beeinflussen bei einer grundsätzlich offeneren Haltung gegenüber dem Gegenstand die äußeren Umstände leider auch das Sammelverhalten: Man ersticke im Material, wenn man beispielsweise neuere Drucke als Bestandteil einer Sammlung mit aufnehmen würde. Ausgeglichen werden diese Defizite ein Stück weit durch eine möglichst genaue Dokumentation des Kontextes, aus dem die archivierten Notenbestände kommen. Dies ist um so entscheidender, als das aufgezeichnete Notenmaterial in der Volksmusik an sich sehr wenig über das klingende Resultat aussagt, denn: die traditionelle Musizierpraxis ist die auswendig gespielte, ständig variierte Interpretation eines bekannten Repertoires. Dies macht auch ein Blick in die Archivbestände deutlich. Notiert sind meist eine oder zwei Melodiestimmen in handschriftlich angelegten Stimmbüchern, die eigentlich nur zur Dokumentation und Orientierung dienen sollten, etwa wenn ein neues Mitglied oder eine Aushilfe zu der eingespielten Gruppierung hinzukam. Blaskapellen, die sich aus Kostengründen früher ohnehin häufig aus Mitgliedern einer Familie zusammensetzten, konnten zu vorgegebener Melodie nach der übliche Praxis frei spielen. Da mit dem Musizieren eine nicht unerhebliche Einkommensquelle verbunden war, lernten schon die Kinder nach kurzer Einweisung etwa auf der Baßtrompete oder dem Tenorhorn als Mitglieder einer Kapelle relativ schnell die Melodien kennen, die sie ein Leben lang begleiteten. Ausnotierte Nebenstimmen seien erst mit der durcharrangierten Blasmusik der letzten drei Jahrzehnte aufgekommen. Hinter den schmucklosen Melodie-Stimmbüchern ist also ein riesiger Erfahrungsschatz der jeweiligen Formation zu denken, der das wenige Notierte zu einer sehr lebendigen Musik Blaskapelle Grauschopf vor einem Wirtshaus in Schierling (ca. 1935) Foto: Oberpfälzer Volksmusikarchiv 9 macht: Improvisation, individuelle Auszierung und Phrasierung der Melodien geben den Stücken bei jeder Aufführung ein neues Gesicht. Dies zu Vermitteln, sehen Johann Wax und Franz Schötz neben der Bewahrung der Quellen als Hauptaufgabe der Volksmusikpflege an, für die es eigentlich kein einheitliches Konzept gebe. Sie sehen wenig Sinn darin, die Volksmusikszene mit ausgewählten Melodien aus ihren Beständen in schmucken Editionen für den Notenschrank zu versorgen. Damit könnten nur wenige wirklich etwas anfangen. Sie wollen auf der Basis der ständig erweiterten Sammlung einem möglichst großen interessierten Musikerkreis Handreichungen für die Praxis geben. Ganz entscheidend sei neben der Begeisterung für das Repertoire die eigene Erfahrung und individuelle Herangehensweise an das Repertoire. Während Franz Schötz von Haus aus in der Volksmusik beheimatet ist, hat Johann Wax als Gitarrist seine Wurzeln in der Rockmusik-Szene des Straubinger Raumes. Seinen Blick von „außen“ hält er für ganz gesund: Wax hat sich den Zugang zur Volksmusik mit der Gitarre erarbeitet und findet, wie er ohne Scheu demonstriert, immer wieder zu ganz ungewöhnlichen interpretatorischen Varianten der tradierten Melodien. So kann sich bei ihm der Zwiefache „Zwölf Dörfer“ aus dem Parsberger Raum auch einmal in einen ausgewachsenen Flamenco wandeln. Johann Wax läßt sich da nicht einengen, wie auch sein professionelles Interesse gern mal über den eigentlichen Bereich der Volksmusik- und Brauchtumspflege hinausgeht, zuletzt mit dem Buch Glockenschlag und Hörnerklang. Türmer in der Oberpfalz (Buch & Kunstverlag Oberpfalz, Amberg 2002), das er zusammen mit Barbara Polaczek verfaßt hat. Zwar sei der Publikumsverkehr in der „Weinschenk- Villa“ eher gering, wobei hier Beratungsgespräche und die Recherche nach „neuem“ Repertoire im Vordergrund stünden. Doch bildet das Archiv die Basis für die Vermittlungsarbeit in den regelmäßig abgehaltenen Volksmusikkursen und Lehrgängen, die jeweils auf bestimmte Regionen zugeschnitten sind. Hierzu werden als Arbeitsmaterial umfangreiche Lehrgangshefte mit Liedern, Tanzmusik und Tanzbeschreibungen regionalspezifisch zusammengestellt. Zusätzlich wird in der bereits in 6. Auflage erschienenen Bibliographie zur Volksmusik in der Oberpfalz und angrenzenden Gebieten von Johann Wax über weitere Notenausgaben, Literatur und Tonträger informiert. Damit die Teilnehmer über die Spielpraxis hinaus einen intensiveren Bezug zu einem bestimmten Repertoire aufbauen können, gehört die Vermittlung der Umstände, in der die Musik ursprünglich gespielt wurde (Herkunftsort und Lebensgeschichte der jeweiligen Musiker in Wort und Bild), zu den integralen Bestandteilen der Kurse. Nach Möglichkeit werden auch immer alte Musikanten eingeladen, um einen unmittelbaren Erfahrungsaustausch zu ermöglichen. Allerdings werde gerade dies immer schwieriger. Als funktionale Musik, die elementar an bestimmte Lebensbedingungen geknüpft ist, verschwinde die traditionelle Volksmusik zunehmend von der Bildfläche und damit auch ihre authentische Überlieferung. Einen Versuch, dem entgegenzuwirken, stellt beispielsweise die vor einigen Jahren ins Leben gerufene Aktion „Musikantenfreundliches Wirtshaus“ dar, mit der man allerdings das Aussterben der Dorfwirtshäuser als zentraler Ort von Tanzveranstaltungen und Musikantenstammtischen nicht aufhalten könne. So kommt es auch für Johann Wax hin und wieder zu seltsamen Begegnungen, wie er erzählt: Kürzlich habe er einem alten, sich selbst auf verschiedenen Instrumenten begleitenden Sänger zugehört, den er heute schon auf keinen Heimatabend mehr einladen könne. Er schien aus einer anderen Welt zu sein und habe Musik gemacht, die am ehesten noch in einem Freejazz-Konzert akzeptiert würde, da sie kaum einzuordnen gewesen sei. Als Musiker aus einer anderen Welt ist auch der in der vorliegenden Ausgabe portraitierte Komponist Jens Joneleit häufiger Gast im Bezirkskulturzentrum. Wenn Joneleit sich nach eigenem Bekunden bei der Gestaltung eines seiner Streichquartette von Zwiefachen inspirieren ließ, die er im Oberpfälzer Volksmusikarchiv studiert hatte, so wird damit eine weitere Perspektive eröffnet, die den vielfältigen kulturellen Wert der Institution in Regensburg eindrucksvoll unterstreicht