Aus seiner Abhandlung Berlioz und seine Haroldsymphonie
Franz Liszt über die Rauchschen Viktorien Liszts Abhandlung Berlioz und seine Haroldsymphonie erschien in mehreren Folgen 1855 in der Neuen Zeitschrift für Musik, Nr. 3 (13. Juli), Nr. 4 (20. Juli), Nr. 5 (27. Juli), Nr. 8 (17. August) und Nr. 9 (24. August 1855). Die Passage über Rauchs Viktorien findet sich in der vierten Folge vom 17. August, S. 79 bis 81. Der Wortlaut wird hier in seiner musiktheoretischen Einbettung wiedergegeben, Rechtschreibung und Interpunktion sind beibehalten (Jörg Traeger). „Weil das Vergnügen orchestrale Werke anzuhören für Solche die den poetischen Inhalt neben dem musikalischen verfolgten, immer ein so durchaus subjectives gewesen ist, so erscheint es Vielen entstellt, sie glauben seinem Charakter Gewalt angethan, wenn die Phantasie gezwungen werden soll dem Gehörten vollständig skizzirte Bilder unterzulegen, Gestalten gerade so schauen und annehmen zu müssen, wie der Autor es wollte. Die bisherige Wirkung rein instrumentaler Musik auf poetische Gemühther ließe sich vielleicht mit d e r vergleichen, welche antike Bildwerke auf sie hervorbringen; auch diese stellen in ihren Augen mehr Leidenschaften und Formen dar, welche gewisse Seelenbewegungen erzeugen, als bestimmte besondere Individuen, deren Namen sie allerdings tragen, Namen aber die meist wieder Allegorisirungen von Ideen sind. So ist Niobe ihnen nicht dieses oder jenes von einem oder dem anderen Mißgeschick betroffene Weib: sondern der erhabenste Ausdruck höchsten Leidens. Sie sehen in Polyhymnia nicht eine bestimmte Person in bestimmter Rede oder Handlung begriffen; sie ist ihnen vielmehr sichtbare Darstellung von Schönheit, Harmonie, Reiz und Zauber jener hinreißenden und doch sanften ruhigen Ueberzeugungskraft, deren Beredtsamkeit sich in einem einzigen Blicke concentriren kann. Minerva ist ihnen nicht nur die blauäugige göttliche Rathgeberin des schlauen Ulyß; sie erscheint ihnen als die edle Symbolisirung jener Begabung unseres Geistes, die zugleich urtheilt und erräth, die mit allen Attributen der Kraft ausgestattet, mit allen Waffen des Krieges gerüstet, dennoch Freundin der Ruhe ist, die Lanze und Harnisch tragend den Frieden verheißenden Oelbaum als ihre schönste Gabe sprießen läßt, die im Besitz der furchtbaren Aegide nichts von der Güte und Anmuth ihres Lächelns, von dem langsam sich senkendem Rhythmus ihrer Bewegungen 11 als wäre sie von der Last ihrer Krone niedergedrückt. Lässig hält sie den das Scepter der Herrschaft symbolisirende (sic!) Zweig, und erhebt das Faltengewand, gleichsam um es einem Strom von Blut und Schlamm entfernt zu halten. Es ist der Augenblick wo das in Betrachtung aller Opfer des Sieges versenkte Herz, von Trauer ergriffen und seine Erschütterung verhehlend, sich frägt ob der Glanz des Ruhmes jedwedes Leid verlöschen kann. Hier ist Reinheit mit Schwermuth, Grazie mit Majestät so innig verbunden, daß wir wie gebannt vor dieser idealen Verkörperung eines der dunkelsten Probleme menschlichen Geschickes stehen: der Enttäuschung, welche selbst den Triumph begleitet. Auch die vierte Figur [Abb. 5, S. 7] bewahrt noch im Ausdruck ihres Mundes einen Character bittern Leidens, doch ist die Angst schon in der ungetrübten Friedlichkeit der Stirne überwunden, und diese zeigt uns, daß Sicherheit eines reinen Bewußtseins und Glauben an eine gerechte Sache die Ruhe der Seele zurückgebracht haben. Mit edler Bescheidenheit hält sie ihre Kränze; ihr Blick ist träumerisch wie der des Denkers, für den jeder Sieg nur ein Ausgangspunkt zu neuen und wohlthätigen Eroberungen ist. Die Fünfte [Abb. 4, S. 7], so wunderbar schön und ausdrucksvoll daß sie das Auge entzückt, die Sinne berauscht, erhebt uns wie eine Erscheinung aus höherer Welt, mit so feuriger Lebhaftigkeit durchströmen die Pulsationen des Lebens ihre zauberisch harmonievollen Glieder! Sie strahlt nicht allein von eigener freudiger Bewegung; es spricht aus ihr die allgemeine Freude an einem großen Sieg. Es athmet aus ihr die ganze Lust von der in einer solchen Stunde alle Herzen electrisirt sind; sie scheint Ehre und Glanz des Erfolges freimüthig Allen mittheilen zu wollen; denn obwohl wir sie auf einem steilen und schmalen Felsen sitzend erblicken, auf welchem nur für einen Platz ist, hält sie ihren Eichenkranz, als wollte sie denselben einer ganzen zu ihren Füßen versammelten und solchen Preises würdigen Menge zuwerfen. Die Sechste personificirt jene süße Trunkenheit, die aus einem Conflict verschiedener, außerordentlicher Gemüthsbewegungen entsteht, und keine überwiegen läßt, so daß die Seele in einer Exaltation erhalten wird, welche den Taumel der Lust in ihr verlängert, und sogar die Erinnerung an den eigentlichen Grund dieser Wonne verdrängt. Ohne Nachgedanken überläßt sich das zufriedene Herz der Freude, mit seligem Lächeln, gefälliger Regsamkeit, mit entzücktem Blick, mit wohlwollenden zuvorkommenden Gebehrden gegen Alle. Wie nun der Marmor dem Auge allgemeine von der Kunst formulirte Begriffe bietet, so verlangt das Ohr nach Aehnlichem in der instrumentalen Musik. Jene Symphonie ist den Gebildeten höchster Ausdruck der verschiedenen Phasen eines leidenschafltich freudigen Gefühls, diese der einer elegischen Trauer, die andere einer heroischen Begeisterung, wieder eine der Klagen über ein Unersetzliches. Wenn sie demnach im Kunstwerk den abstracten Ausdruck allgemein menschlicher Gefühle zu suchen und zu finden gewohnt sind, so muß eine natürliche Abneigung gegen Alles sie erfüllen, was darauf hinaus geht, diesem Allgemeinen einen concreten Character zu verleihen, es zu einem Besondern zu machen, auf eine bestimmte menschliche Figur zurückzuführen. Gewiß haben sie den unbestreitbaren Anspruch, die unveräußerliche Pflicht jene Art des Schaffens aufrecht erhalten wissen zu wollen; soll aber deswegen anderen Gattungen ihr Daseinsrecht geschmälert werden? Sollen diejenigen unter das Joch einförmiger Arbeiten gebeugt werden, die von ihrem Genius und dem Geiste der Zeit zum Erfinden neuer Gießformen sich getrieben fühlen? Müßte man nicht fürchten, sich den Leistungen entsagen zu sehen die ihnen vortrefflich gelingen würden, um dann in Bestrebungen, welche der Natur ihrer Inspiration nicht zusagen, ihre Bestimmung zu verfehlen?“