Juan Martin Koch
Die Regensburger Tage Alter Musik im 20. Jahre ihres Bestehens
Die Grenzen dessen, was sich unter dem Namen Alte Musik versammelt, sind längst verwischt, wenn nicht verschwunden. Da befreien auf der einen Seite Jos van Immerseel und sein abermals überragendes Orchester Anima Eterna die Großmeister Borodin und Rimsky- Korsakov von dem, was man als russische Seele zu rühmen sich gewöhnt hat, was aber – nach Mahlers Diktum – wohl doch nichts anderes ist als die Tradition der Schlamperei. Fein abgestuftes Vibrato bei den darmbesaiteten Streichern, ein paar Jahrzehnte zurück in der Entwicklungsstufe der Bläser, dazu die größtmögliche Virtuosität an allen Pulten: schon ist sie perfekt, die geradezu trunken machende Verjüngungskur für vermeintlich Abgespieltes wie die „Polowetzer Tänze“ oder „Sheherazade“. Einziges Problem: man will das eigentlich nie wieder anders hören … Und da bemüht sich auf der anderen Seite eine Truppe namens Red Priest – gleichsam die dunkle Seite von Rondo Veneziano – um die konsequente Harry- Potterisierung des Barockrepertoires. In schwarzen Masken sich hereinschleichend, auswendig spielend und somit flexibel für semiszenische Elemente, verdüstern sie alles, was sie entfernt an Schattenhaftes erinnert, in einen Reigen unseliger Geister, verfremden es durch Tempoexzesse und Verrohung der Klanggebung und ernten dafür zur Geisterstunde Ovationen. Beide Konzerte haben in gewisser Weise mit dem neuen Zauberwort Musikvermittlung zu tun: So kam die prinzipiell nur zu begrüßende kostenlose Konzerteinführung Immerseels am Nachmittag über einige eher pauschale Informationen nicht hinaus und funktionierte mehr auf der Ebene der schlichten Demonstration (durch das vollständig anwesende Orchester) denn auf derjenigen der Verbalisierung. Daß es auf die Frage „Was haben Rimsky-Korsakov und Borodin mit Alter Musik zu tun?“ nicht viel mehr als die Antwort geben würde, daß jede um authentische Aufführungsbedingungen bemühte Interpretation Alte Musik sei, war zu erwarten gewesen, doch zeigte sich im Timing der Veranstaltung, daß gerade auch solche „Moderationskonzerte“ einer gründlicher vorbereiteten Dramaturgie bedürfen. Musikvermittler der anderen Art sind die Damen und Herren von Red Priest, haben sie doch keine Skrupel, zugunsten der Dramaturgie ihres nicht eben subtilen Mottos „Nightmare in Venice“, gleichsam über Repertoireleichen zu gehen, und können den Eindruck nicht ganz entkräften, die – nennen wir es ruhig Show – solle ein wenig auch von den Grenzen ablenken, die den Musikern in Sachen Intonation und Klangentfaltung gegeben sind. Die Höhepunkte instrumentaler Kompetenz spielten sich jedenfalls anderswo ab. Bei der fabelhaften Geigerin Anette Sichelschmidt etwa, deren Spiel sich als heimlicher Dreh- und Angelpunkt der konstruierten Marienvesper Heinrich Ignaz Franz Bibers entpuppte. Denn die aberwitzigen Anforderungen an die Solovioline in eingeschobenen Instrumentalsonaten greifen hier auf die prächtigen Psalmvertonungen in variablen Solo- oder Chorkonstellationen über, und Roland Wilsons Capella Ducale und Musica Fiata leisteten in allen Belangen Überragendes. Oder im herrlich präsenten und frischen Chorklang der Regensburger Domspatzen unter Roland Büchner, die das Eröffnungskonzert mit Haydns Schöpfung mühelos überstrahlten. Und das trotz hervorragender Solisten (Katherine Fuge, Marcus Ullmann und Sebastian Noack) und einer vorbildlich unterstützenden Akademie für Alte Musik Berlin, die mitunter freilich mehr ihrem Konzertmeister zu folgen schien als dem Dirigenten, der sich somit ganz auf die Führung seines Chores konzentrieren konnte. Bei anderen Konzerten dieses wiederum sehr guten Festivaljahrgangs sind es Einzeleindrücke, die lange nachklingen: die Intensität des Klarinettenklangs von Christian Leitherer im ansonsten etwas blutarmen Programm des Main-Barockorchesters Frankfurt, die vorbildlich umgesetzten Varianten im Umgang mit Hohelied-Vertonungen der Renaissance in der Darbietung des australischen A-Capella-Ensembles The Song Company oder die wie aus einer versunkenen Welt aufscheinende Ausstrahlung des jungen Countertenors José Hernández Pastor. Begleitet von der exzellenten Formation Al Ayre Español verlieh er den spanischen Kantatenausgrabungen des 18. Jahrhunderts eine ätherisch jenseitige Aura auf hohem vokalen Niveau, das Juan Martin Koch Schatzsucher, Rattenfänger, Stammgäste Die Regensburger Tage Alter Musik im 20. Jahre ihres Bestehens 13 freilich nicht über die auf Dauer etwas eindimensionale Werkauswahl hinwegtäuschen konnte. Auch die vom Ensembleleiter Eduardo Lopez Banzo recht beiläufig eingestreuten Cembalostücke waren kein echtes Gegengewicht in einem Konzert, das sich für ungünstig plazierte Zuhörer in der Minoritenkirche ebenso im akustisch Ungefähren verflüchtigte wie das vom Repertoire her nicht minder originelle Domkonzert des klein besetzten Ensemble Lucidarium. Rund um einige Gesänge zum Purimfest hatten Francis Biggi und seine Mitmusiker Vokal- und Instrumentalstücke gruppiert, die auf das Erbe der Juden in der italienischen Renaissancemusik zurückgehen. Leider ließen die Programmkommentare – wie schon in manchen Jahren zuvor – keine genauen Rückschlüsse auf die Überlieferung und damit auf den Grad der Spekulation bei der Ausführung zu. Deren Kompetenz sei gar nicht in Frage gestellt, man wüßte nur eben gern ein wenig mehr über die Entscheidungen der nicht selten auch als Forscher sich betätigenden Musiker. Freimütig gab da der in Regensburg nicht mehr ganz unbekannte Grant Herreid zu, einige Melodien des spanisch-italienischen Programms „Cuerda de Amor“ auf der Basis überlieferter Modelle einfach selbst nachkomponiert zu haben. Visceral Reaction heißt die Gruppe, mit der Herreid und Paul Shipper auch dieses Jahr ihren Festivalstammplatz behaupteten. Anders als in den Jahren zuvor gab es aber einige Enttäuschungen: darüber, wie mißlungen Herreids Rekonstruktionen in Bezug auf die spanischen Wortbetonungen bisweilen waren, und darüber, daß die stimmlichen Defizite diesmal nicht durch den sympathischen Schwung des Ganzen aufgefangen wurden. Daß sich die augenzwinkernd als „Passacaglia“ von Eliades Ochoa angekündigte Zugabe als der Buena- Vista-Hit „Chan Chan“ entpuppte, wirkte in diesem Umfeld dann gar ein wenig billig. Nicht ganz glücklich wurde man auch mit den Auftritten der Bande des Hautbois du Roy und des Berliner Cembalo Ensembles. Monokulturen in Sachen Bläser- bzw. Tastenrepertoire hier wie dort, beiderseits auch Ermüdungserscheinungen bei Interpreten wie Zuhörern. Klänge aus einer versunkenen Welt: José Hernández Pastor singt spanische Kantaten Foto: Hanno Meier 14 Mit der Kehrseite der oben einmal mehr beklagten Überakustik hatte das wackere Münchener Orchester La Ciaccona unter Wolfram Graul im knochentrockenen Velodrom zu kämpfen. Besser stellte sich das in seiner Verschiedenartigkeit hochinteressante Sängerensemble auf die Verhältnisse ein. Auf der einen Seite die routiniert ihre Alte-Musik-Erfahrung ausspielenden Gudrun Sidonie Otto (Venere) und Bernhard Schafferer (Zeffiro), auf der anderen Seite die von der Avantgarde herkommende und vielleicht gerade deswegen so faszinierend rollengerechte Salome Kammer als Psiche und der Ausnahmesopran (!) Jörg Waschinski als Amor, der (wie Andreas Post) trotz Indisposition den Zauber spüren ließ, der von seiner Stimme ausgeht. Ansonsten wechselte bei der Opernausgrabung Amor und Psiche die Aufmerksamkeit schnell von den kompositorischen Gemeinplätzen des Mozart-Zeitgenossen Joseph Schuster hin zur szenischen Umsetzung. Hier hatte Lorenzo Fiorino ins Sachen Freud für Anfänger ganze Arbeit geleistet und mit seiner nicht ganz ernst gemeinten Aktualisierung die Flucht wohl zu Recht nach vorne und zwar in Richtung Psycho-Klamotte angetreten. Das Publikum schien es mit Fassung zu tragen, an derlei Grenzüberschreitungen ja inzwischen gewöhnt, frei nach dem Motto: Stell dir vor, es ist Alte Musik und keiner merkt’s.