Mälzels Magazin

Zeitschrift für Musikkultur in Regensburg

Schriftzug Mälzels Magazin
Hefte2004Nr. 4
mälzels magazin, Heft 4/2004, S. 4–7
URL: http://www.maelzels-magazin.de/2004/4_03_emmeram.html

David Hiley

Gesucht: der Schreiber des Codex St. Emmeram

Programmnotizen zu einem Konzert mit dem Ensemble „Oktogon“ am 19. November 2004

Handschriften aus dem Mittelalter sind meist anonym, d. h. der Schreiber unterzeichnet und datiert sein Werk nicht und eine Titelseite mit Impressum wie in einem späteren gedruckten Buch fehlt. So auch in den meisten mittelalterlichen Musikhandschriften. Die bedeutendsten werden von der Forschung mit Siglen und Spitznamen versehen, um die Verwendung umständlicher Bibliothekssignaturen zu vermeiden. So steht z. B. „F“ für eine in Florenz aufbewahrte Handschrift mit der umfangreichsten erhaltenen Sammlung der mehrstimmigen Musik der Kathedrale Notre-Dame in Paris aus dem frühen 13. Jahrhundert, oder der Name „Codex Squarcialupi“ für die größte erhaltene Sammlung mit Musik des italienischen 14. Jahrhunderts, einst im Besitz des Florentiner Organisten Antonio Squarcialupi. Ein Name dieser Art ist auch der „Sankt-Emmeram- Codex“, der sich auf eine Handschrift bezieht, die heute in der Bayerischen Staatsbibliothek unter der Signatur Clm (Codex latinus monacensis) 14274 liegt. Nun gibt es bekanntlich Hunderte von Handschriften aus St. Emmeram in der Staatsbibliothek, wie etwa den „Codex Aureus“ (was die Regensburger manchmal etwas reizt). Was ist also das besondere am „Sankt-Emmeram-Codex“ Clm 14274 gegenüber Clm 14275 (Schriften des hl. Augustinus) oder 14276 (weitere Kirchenväter)? Und was hat er mit dem Benediktinerkloster St. Emmeram in Regensburg zu tun, außer daß er sich unter den aus Emmeram nach München verschleppten Quellen (mit den Signaturen Clm 14000 bis Clm 15028) befindet? Regensburg bzw. St. Emmeram als alleiniger Ursprungsort der Handschrift ist eigentlich auszuschließen, denn der Codex wurde von mehreren Schreibern zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten angefertigt. Tatsächlich ist ein Großteil der Handschrift von ein und demselben Schreiber (wir nennen ihn vorläufig „S“) aufgezeichnet worden, der sein Werk schon Ende der 1430er Jahre in Wien begann, etwa ein Jahrzehnt bevor er nach St. Emmeram kam. Erst nach dem Tode von „S“ gelangte das Buch in den Besitz der Klosterbibliothek. Mit über 270 Kompositionen für zwei bis vier Vokalstimmen nimmt die Handschrift einen Ehrenplatz in der Musikgeschichte des 15. Jahrhunderts ein. Wir können jedoch nicht davon ausgehen, daß diese Musik auch in St. Emmeram aufgeführt wurde. „S“ wollte offensichtlich das Beste aus der gesamteuropäischen Überlieferung sammeln. Die schwierigen Stücke hätten jedoch die Möglichkeiten der Klosterkirche zu jener Zeit überstiegen und wir haben keinen Beweis dafür, daß Musik dieser Art je in St. Emmeram aufgeführt wurde. (Die erhaltenen St. Emmeramer Ordinarien des 15. Jahrhunderts, die Auskunft über die Ausführung der Liturgie geben, weisen auf das Spielen der Orgel, aber nirgendwo auf vokale Mehrstimmigkeit hin.) Angeführt wird die Liste der großen Komponistennamen, die im Sankt-Emmeram-Codex vorkommen, von Guillaume Dufay aus Cambrai (1397–1474), den größten Meister des 15. Jahrhunderts. Von ihm sind nicht weniger als 39 Stücke in der Handschrift vorhanden. Neben ihm steht der große Gilles Binchois, Musiker am Burgundischen Hof (12 Stücke) sowie eine Reihe weniger bekannter Komponisten aus Nordfrankreich, dem Hennegau und Brabant. Nun war das 15. Jahrhundert eine Zeit, in der die englische Musik (ausnahmsweise) einen großen Einfluß auf dem Festland ausübte. Bekannt wurde diese Musik durch die Anwesenheit englischer Hofkapellen in den während des Hundertjährigen Krieges von den Engländern besetzten Gebieten Frankreichs oder bei Kirchenkonzilien wie dem Konzil von Konstanz 1414– 18. So finden wir im Sankt-Emmeram-Codex fünf Werke von John Dunstaple (ca. 1380–1453), zwei von Lionel Power (gest. 1445) und zwei von John Benet (gest. 1458). Dagegen sind italienische Komponisten nur spärlich vertreten (vier Stücke insgesamt). Die große Stunde der Italiener sollte erst ein Jahrhundert später kommen. Nichts ungewöhnliches bisher. Das ist ein Repertoire, das überall in fortschrittlichen Zentren bekannt war. Es sagt auch nichts über die Herkunft der Sammlung aus. Aber dann fällt auf, daß Johannes Brassart (gest. 1455), aus Lüttich stammend aber am Habsburger Hof in Wien und Graz tätig, mit drei Stücken 5 vertreten ist, und daß einige sonst praktisch unbekannte Komponisten auftauchen: Hermannus Edlerawer (sieben Stücke), Urbanus Kungsperger (3), Rudolf Volkhard (3), Peter Sweikl und Johannes Waring. Das sind keine international bekannten Meister. Wo hätte „S“ diese Musik finden und aufschreiben können? Planmäßig hat „S“ nicht gearbeitet. Die Stücke kommen in ziemlich beliebiger Reihenfolge nacheinander, weder nach Komponisten noch nach Gattung geordnet. Es sind Stücke für das Ordinarium Missae (Kyrie, Gloria usw.), Antiphonen zu Ehren der Hl. Jungfrau Maria, Hymnen, Introiten, Magnificats, Sequenzen etc. In einem Punkt ist jedoch eine Systematik erkennbar. Der Codex enthält fast ausschließlich Werke mit lateinischem Text. Wo in der Originalkomposition ein französischer Text vertont wurde, wie bei vielen Chansons von Dufay und Binchois, wurde ein neuer lateinischer Text geistlichen Inhalts eingesetzt. In vielen Fällen sind freilich die funktionale Bestimmung wie auch der Komponist nicht mehr feststellbar. Daß sich die Schreiberarbeit über mehrere Jahre hinzog, zeigt u. a. die Tatsache, daß „S“ im älteren Teil des Codex die Noten schwarz ausgefüllt hat, im jüngeren Teil jedoch auf die modernere „weiße“ Notation umgestiegen ist, wo die Noten nicht mehr ausgefüllt sind (vgl. die Abb.). Ohne eingehende Untersuchungen in den Akten der Zeit kann man Männer wie Volkhard oder Kungsperger nicht identifizieren. Es ist das Verdienst vor allem Dagmar Braunschweig-Paulis und Ian Rumbolds, die Zusammenstellung der Handschrift über viele Jahre und in mehreren Orten erhellt zu haben. Erste Station war Wien, Wirkungsort Johannes Brassarts aber auch Studienstätte des Rudolf Volkhards von Heringen. Ein Sanctus wird Volkhard im Sankt-Emmeram-Codex zugeschrieben, in zwei anderen Fällen gibt es im lateinischen Text ein Akrostichon: es ergeben sich die Namen „Rudolf“ und „Lazarus“ Benedicamus-Domino-Gesang mit Tropus Regi unico Dei omnipotentis, dreistimmig, vermutlich von Rudolf Volkhard von Heringen (Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 14274, fol. 47v–48r) 6 (Volkhard war Stadtphysikus und führte einen Leprosen im Siegel). Hermann Edlerawer war Universitätsmitglied in Wien und Kantor der Chorschule von St. Stephan. In Wien hat „S“ auch einen guten Teil des internationalen Repertoires kennenlernen können, bemühten sich ja König Sigmund, Herzog Albrecht V. und vor allem König Friedrich III. (1424–93), eine Kapelle vom Rang der englischen, französischen und burgundischen Zeitgenossen aufrecht zu erhalten. Teile des Sankt-Emmeram-Codex, und zwar später geschriebene Lagen, deuten in eine andere Richtung, denn Waring, Kungsperger und vielleicht auch „Biquard“ studierten in Leipzig. („Biquard“ oder „Wiquard“, wie er im Emmeramer Codex erscheint, ist nicht eindeutig identifiziert worden. Es könnte Arnold Pickhart, Sänger im Dienste Friedrichs III. sein, oder aber Weikerus Kunsteyn, der in Leipzig studierte). Zusammen genommen deuten diese Tatsachen darauf hin, daß der erste Teil der Handschrift in Wien zusammengestellt wurde, spätere Teile vielleicht in oder mit Bezug auf Leipzig. Letztendlich muß man die Geschichte jedoch vom anderen Ende, also von St. Emmeram aus aufrollen, um „S“ näher zu kommen. In alten Bibliothekskatalogen des Klosters wird unser Codex zusammen mit insgesamt 109 weiteren Handschriften als Gruppe aufgelistet. In vielen von den 110 war „S“ offensichtlich als Schreiber am Werk. Ihn konnten Braunschweig-Pauli und Rumbold eindeutig identifizieren. Etwa 1415–20 geboren, stammt er vermutlich aus Bayreuth. Er läßt sich 1436–39 als Studierender in Wien nachweisen und war 1456–59 auch an der Universität Leipzig immatrikuliert. Ab 1439 war er Pfarrer in Auerbach in der Oberpfalz. Spätestens 1448 war er Rector Scolarium an der Klosterschule St. Emmeram. 1455 wurde er zum Kanoniker der „Alten Kapelle“ in Regensburg ernannt. (Auch der oben erwähnte Peter Schweikl war Kanoniker ebendort 1442–67). Er hatte auch Pfründe außerhalb Regensburgs. Er starb am 20. März 1469 und seine Buchsammlung, nämlich die 110 eben erwähnten Handschriften, wechselten in den Besitz des Klosters. Noch wollen wir den Namen des „S“ an dieser Stelle nicht preisgeben. Freilich ist er im Text dieses kurzen Berichts kryptographisch als Akrostichon verborgen. In einem Gesprächskonzert am 19. November in der Basilika St. Emmeram wird seine Identität dann aufgedeckt. Gesungen wird das Konzert vom Vokalensemble „Oktogon“. Es präsentiert einen Querschnitt durch die Gattungen und Komponisten, die im Codex vertreten sind. Eingeführt werden die vier Teile des Konzerts durch kurze Informationen über den Hintergrund, den Inhalt und die Entstehung der Handschrift. Ein Seminar über den Sankt-Emmeram-Codex wurde im Sommersemester 2004 am Institut für Musikwissenschaft der Universität Regensburg vom Autor geleitet. Alois Späth M. A., Leiter des Ensembles „Oktogon“, ist derzeit Mitarbeiter an dessen Forschungsprojekt. Eine Verbindung der wissenschaftlichen Forschung und Lehre mit der praktischen Ausführung erschien daher sinnvoll. Regensburger haben also die seltene Gelegenheit, ein bedeutendes Stück ihrer Musikgeschichte in St. Emmeram zu erleben. Wir danken der Bayerischen Staatsbibliothek für die Abdruckgenehmigung der Abbildungen auf S. 5 f. Christ ist erstanden, dreistimmige Bearbeitung von Johannes Brassart (Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 14274, fol. 145r) 7 Programm Begrüßung Der Inhalt des Codex St. Emmeram Introitus: Statuit ei dominus, 3st. Anon. Kyrie, 3st. Gilles Binchois Gloria aus der Missa „Rex seculorum“, 3st. John Dunstaple oder Leonel Power Die Komponisten und ihr Umfeld Credo, 2st. Hermann Edlerawer Sanctus, 2–3st. Johannes Roullet Agnus Dei, 2st. Reginald Libert Sequenz: Gaude virgo mater, 4st. Guillaume Dufay Die Zusammensetzung der Handschrift Hymnus: Ave maris stella, 4st. Anon. Magnificat, 3st. Anon. Antiphon: Anima mea, 3st. Leonel Power Benedicamus Domino: Regi unico dei omnipotentis, 3st. Rudolf Volkhard von Heringen Der Hauptschreiber und Besitzer des Codex St. Emmeram Christ ist erstanden, 3st. Johannes Brassart 4st. Kanon: Presulem euphebeatum Petrus Wilhelmi von Grudenz Motette: Supremum est mortalibus bonum, 3st. Guillaume Dufay Antiphon: Tota pulchra es, 4st. Hugo de Lantins
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