Roman Hankeln
Proske, Mettenleiter, Haller und die Kirchenmusik an der Alten Kapelle im 19. Jahrhundert
Proske träumt: Palestrinas Missa Papae Marcelli, die Kirchenmusik errettend, von oben. Konsonierende Akkordfolgen purpurngewandet, eine gravitätische Prozession. Dissonanzen lämmergleich vorbereitet und demutsvoll aufgelöst, ordentlich gescheitelt, liturgisch ...
Ach. Lange vergangen die Zeit, in der geniale Künstler in solch erhabener Strenge fromme Meisterwerke schufen. Proske schreibt: „... in jenem Zeitalter gingen der Genius und die religiöse Begeisterung Hand in Hand [...] die Tonmeister fanden noch ihre volle Befriedigung und Ehre im ungetheilten Schaffen für die Kirche ...“ Lange vergangen das goldene Zeitalter: Einst huldigten sie noch nicht „mit ganzer Seele und Liebe der profanen Kunst“, die Komponisten. Da hatte der Verfall der Kirchenmusik noch nicht begonnen ...
Ein Teil des goldenen Zeitalters der Kirchenmusik fand vor 150 Jahren an der Alten Kapelle statt. Die Gründung des Kollegiatsstifts, wir wissen es, wird auf Ludwig den Deutschen (826–876) zurückgeführt: Anno Domini 875 war das, zu Ehren Mariens wohl als Hofkapelle seiner Regensburger Pfalz erbaut und mit Kanonikern bestückt. Das Stift entkam der Säkularisierung nach 1800 übrigens nur deshalb, weil seine Gelder nach Österreich ausgelagert worden waren und der Bayerische Staat dieses Geld nicht ans Ausland verlieren wollte ...
Alles beginnt mit dem Lebenstraum Carl Proskes (1794–1861). Proske, daselbst Kanonikus seit 1830, Sucher der blaublumigen Einheit von Religion und Künstler, dem Mythos der Romantik. Schon Proskes Vorbild, der Regensburger Bischof Johann Michael Sailer, hatte eine Neubesinnung auf diese Einheit gefordert. Liturgie um 1800: Da betet der Priester (nach dem Muster der „Stillen Messe“, Missa lecta) alle Texte der Messe, auch die der Gesänge selber. Wenn er damit während längerer Musikstücke (Gloria, Credo etc.) fertig ist, fährt er mit der Zelebration fort, ohne deren Ende abzuwarten. Musik ist, liturgisch gesehen, Dreingabe, Nebensache. Das stört Proske: „Es hat der menschliche Gesang die heiligen Handlungen unseres Gottesdienstes zu heben und zu beleben und an demselben nicht sowohl dienend mitzuwirken, als vielmehr einen integrierenden Theil der gesamten Liturgie darzustellen.“ Das schreibt Proske 1853 im Vorwort zum ersten der vier Bände seiner Musica Divina, jener monumentalen Ausgabe der Meister des 16. Jahrhunderts, allen voran Palestrina.
Nicht nur Leute wie Proske halten um 1800 übrigens viele der orchesterbegleiteten Messen der Klassik für eine Krankheit: Verweltlicht, bombastisch, lasziv. Obendrein fehlen nach Krieg und Säkularisation Interesse und Mittel für eine angemessene Besetzung solcher Kirchenmusik, zumal im Regensburger Dom. In der a-cappella-Musik der Komponisten um Palestrina hört Proske die ideale Musik seines Traums. Und sieht darin die Rettung der Kirchenmusik seiner Zeit. Proske reist mehrmals (1834–6, 1838) nach Italien, um anhand der Originalquellen die „echte“ Musik der Vergangenheit zu sammeln. Als Gegengift, um damit die gegenwärtige zu retten. Proske ist eigentlich gelernter Mediziner, Feldmedicus während der Befreiungsschlachten 1814/15, Dr. med. 1816, ab den 20er Jahren Leibarzt Bischof Sailers in Regensburg.
Proske schreibt Stimmbücher in Partituren um, sammelt Drucke und Handschriften. Und legt damit den heilpraktischen Vorrat an für die therapeutische Anwendung alter Meister in Alter Kapelle und Dom. Proske fordert eine gleichsam objektive, in die Liturgie eingebettete Kunst – und das gerade in einem Zeitalter, wo sich Komponisten, Instrumentalisten und Sänger in höchst subjektiver Virtuosität aalen. Proske verschreibt eiserne Diät: „Das edelste Gebilde, zu welchem die Menschenstimme sich erheben kann, ist, ein lebendiges Organ des christlichen Gottesdienstes zu werden [...]. Ihre Bestimmung erhebt sich also weit über jede ästhetische Aufgabe der Kunst [...]; ein Kreis liturgischer Normen ist ihr daher eingewiesen [...]. Darum möge der heilige Sänger in diesen Normen eine weise Beschränkung seiner subjektiven Gefühlsweise erkennen; von seiner Leistung jede Absicht eines eigentlichen Kunstgenusses auszuschliessen, den objectiven Ernst seiner Aufgabe festzuhalten wissen.“
Die „Gesundung“ schreitet nur langsam voran. Umgesetzt werden Proskes Ideen ab 1839 zunächst nur an der Alten Kapelle. Die große Stunde der a-cappella-Polyphonie am Dom schlägt erst 1856, als Domkapellmeister Joseph Schrems die Entlassung aller Instrumentalisten der Domkapelle anordnet, um das gesparte Geld für eine Vergrößerung des Domchors nutzen zu können. An der Alten Kapelle löst der gebürtige Württemberger Johann Georg Mettenleiter (1812–1858) 1839 auf Proskes Vermittlung den erkrankten Chorregenten Joseph Anton Schneider ab. Um Proskes Heilplan in Regensburg Gehör zu verschaffen, übernimmt Mettenleiter die Leitung der sog. Singabende. Langsam verschwinden die Vorurteile gegen die a-cappella-Musik, mehr und mehr findet sie Eingang ins liturgische Repertoire der Alten Kapelle. 1854 vergleicht ein amtlicher Bericht die musikalischen Leistungen der größten Regensburger Kirchen: „In der Alten Kapelle verherrlicht unter Mettenleiters trefflicher Leitung eine vollklingende Vokalmusik, in St. Emmeram eine gute Vokal- und Instrumentalmusik das Hochamt. In dem hohen Gewölbe des Domes [...] kann [man] vom Hauptportal an bis zur Kanzel vorschreiten, ohne es inne zu werden, daß oben hinter dem Hochaltar eine kleine Zahl überanstrengter Sänger versucht, sich bemerkbar zu machen.“
Am 25.2.1867 wird Michael Haller (1840–1915) Stiftskapellmeister und Inspektor des Studienseminars an der Alten Kapelle. In Haller, der sein ganzes Leben im Umkreis der Ideen Proskes zugebracht hat, scheint ein Stück des goldenen Traums Wirklichkeit geworden zu sein. Haller hat bis 1905 den ersten Lehrstuhl für Kompositionslehre an der von Franz Xaver Haberl 1874 eben erst neugegründeten Regensburger Kirchenmusikschule inne. 1891 erscheint Hallers Kompositionslehre für polyphonen Kirchengesang mit besonderer Rücksicht auf die Meisterwerke des 16. Jahrhunderts. Das ist Kontrapunktlehre auf der Basis einer ganz bestimmten (eher homophonen) Seite des Palestrinastils. Im Vordergrund stehen die – jetzt rigider formulierten – liturgischen Forderungen in der Nachfolge Prokes. Programmatischer Satz: „Die Erregung der Affekte bis zur Leidenschaftlichkeit ist von Portrait Proske der Kirchenmusik überhaupt, also auch von der Motettenkomposition ausgeschlossen.“
1868 war auf dem Deutschen Katholikentag in Bamberg der „Allgemeine Caecilienverein“ gegründet worden, Papst Pius X. approbierte ihn 1870. Die Diät der Kirchenmusik wandelte sich nun zu einer großen Operation, die sich an die kirchenmusizierenden Massen richtete und wohl auch deshalb nicht ganz ohne Komplikationen verlief. „Caecilianismus“ im engeren Sinn. Proske war schon 1861 – wie es scheint, entnervt und frustriert – gestorben. Alles war ihm zu langsam gegangen.
Das Urteil der Historiker über den Caecilianismus: Zwiespältig. Hoch schätzt man die editorischen Leistungen Proskes (u. a. Musica Divina und seine Quellensammlung, heute in der Bischöflichen Zentralbibliothek) und Franz Xaver Haberls (1870–1871 Chorvikar an der Alten Kapelle, von ihm stammen u. a. große Teile der alten Palestrina- und Lasso-Ausgaben).
Der Rückzug auf einen bestimmten kirchlichen „Idealstil“, den der Verein predigte, ist dagegen scharf kritisiert worden. Nach der päpstlichen Anerkennung konnte dieser Stil vom Verein praktisch als kirchliches Gesetz propagiert werden. Kreativitätsschwund drohte. Eine deutliche Sprache sprechen die Verrisse von Werken vieler moderner Kirchenkomponisten um 1900 in der caecilianischen Presse (z. B. auch Max Reger wurde hier gescholten).
Heute kritisiert die Forschung an den Werken der Caecilianer selber die Kopflastigkeit, ihr Schattendasein als untote Kopien des altklassischen Stils. Aber: Bedienen sich die Kompositionen z. B. Hallerscher Bauart nicht nur ganz spezieller, ausgewählter Züge der Musik des 16. Jahrhunderts? Sie klingen freilich wie ein „entschärfter“ Querschnitt des späten Palestrina. Aber doch mit Absicht. Interessant dabei der kulinarische Aspekt: Die Farbpracht vokaler Klangentfaltung wird höchst selten vernachlässigt. Könnte ein Nazarenergemälde tönen, tönte es wohl genauso. Stilkopie?
Viele von Hallers Kompositionen sind populär genug, um ihre Kritiker zu überleben. Nicht nur, weil man meiner Meinung nach den wenigsten von ihnen Kopflastigkeit attestieren kann. Ihr Verzicht auf das musikalische Vokabular des 19. Jahrhunderts, ihre Adaption der zahmen Seite des Palestrinastils ist in einer Sicht von der Liturgie begründet, wie Haller sie begriff. Wer ihm das vorwirft, muß ihm schon seine Weltanschauung vorwerfen. Wer bei Heinrichsmesse, Surrexit pastor bonus, oder Coenantibus illis in Hallers gescheitelte, nicht-nur-sauber-sondern-reine Akkordfolgen einstimmt, möge das gerne tun. Ganz unkopflastig. Mit Genuß.
Vgl. die exemplarische Einspielung u. a. dieser Stücke auf der neuerschienenen CD des Regensburger Motettenchors unter Stiftskapellmeister Prof. Josef Kohlhäufl, erhältlich bei Feuchtinger & Gleichauf bzw. Melisma Musik, Wiesbaden, Bestell-Nr. MELI 7128-2.