Juan Martin Koch
Tage alter Musik, Pfingsten 1999
Den Vorwurf der Gigantomanie müssen sich die Veranstalter der diesjährigen Tage Alter Musik in Regensburg sicher nicht gefallen lassen, nur weil sie das Programm auf vier Tage ausdehnten und die Zahl der Konzerte sich somit von den sonst üblichen neun auf nunmehr dreizehn erhöhte. Weiterhin hebt sich dieses Festival dadurch wohltuend von den sogenannten kulturellen Events ab, daß die Musik im Vordergrund steht und die historischen Spielstätten, also die Kirchen und der Reichssaal des alten Rathauses, zu keinem Zeitpunkt als aufgesetzter Marketing-Faktor fungieren, sondern integraler Bestandteil des Musikmachens und Musikhörens, also echter Klang-Raum und nicht austauschbare Kulisse sind. Gleichwohl: Bei einer solchen Erweiterung des Angebots wurde verstärkt das Bedürfnis nach einem roten Faden geweckt, dem man – abgesehen vom momentanen Grad der Erschöpfung – bei der persönlichen Auswahl hätte folgen können.
Andererseits war im Fall der starken Präsenz von Komponistinnen und damit der faszinierendsten Querverbindung, die sich eher zufällig zwischen den einzelnen Programmen ergab, vielleicht gerade die Selbstverständlichkeit bemerkenswert, mit der diese Werke ohne den Verweis auf die politisch korrekte Einhaltung der Frauenquote in das Repertoire aufgenommen wurden. Den Höhepunkt bildete hierbei die Aufführung von Francesca Caccinis einzig überlieferter Oper La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina (Florenz 1625), die abweichend vom sonst üblichen Konzept im modernen Auditorium Maximum der Universität stattfand. Jenseits des für solche Ausgrabungen oft euphemistisch verwendeteten Etiketts ‚verdienstvoll‘ machte hier ein als fahrende Truppe agierendes Kollektiv (das üppig besetzte Genfer Ensemble Elyma mit dem Posaunenchor La Tromboncina und das Ensemble Vocal Orlando aus Fribourg) unter der musikalischen Leitung des Argentiniers Gabriel Garrido den Abend zunächst einmal klanglich zu einem faszinierenden Erlebnis. Einen gleichgewichtigen Anteil am uneingeschränkten Erfolg dieser Produktion hatte freilich ein makelloses Sängerensemble (allen voran Emanuela Galli, Alicia Borges und Furio Zanasi in den Hauptpartien), das bei aller stilistischen Feinfühligkeit nie vergaß, lebendiges Musiktheater zu machen, sowie die florentinische Ballettruppe Il Ballerino in der fantasievollen Inszenierung von Ruth Orthmann. Unterstützt von einem sparsamen, aber der kargen Räumlichkeit eine erstaunliche Atmosphäre abtrotzenden Bühnenbild entfaltete sich die unkonventionelle Handlung um den eher passiv zwischen dem Einflußbereich zweier Frauen stehenden Helden zu einem über das historische Interesse hinausweisenden, stellenweise bewegenden Drama.
Tags darauf gestaltete Emanuela Galli, die Darstellerin der Alcina, auch die zu kleinen Szenen ausgewachsenen Arien und Lamentationen der Venezianerin Barbara Strozzi. Ihre ausdrucksstarke Interpretation wurde allerdings, wie das Konzert insgesamt, etwas getrübt durch die merkwürdig aufgeblähte Begleitung des italienischen Ensemble Galilei. An keiner Stelle wurde deutlich, welche Klangvorstellung mit der Anhäufung von drei Theorben, zwei Lauten und zwei Gitarren verwirklicht werden sollte. Wenn dann auch noch die Koordination bei gutgemeinten Auszierungen des Continuoparts wackelte und den Spannungsbogen von Strozzis hinreißendem Lagrime mie zunichte machte, wurde die vermeintlich authentische Aufführungspraxis endgültig kontraproduktiv. Monica Huggetts brillantem, ganz uneitlen Violinspiel war es zu verdanken, daß auch der zweite Programmschwerpunkt mit Sonaten von Biagio Marini dem übrigen Saitenspiel zum Trotz zu begeistern vermochte.
Daß weniger mehr gewesen wäre, galt beim Recital des Hammerflügelspezialisten Seth Carlin für die Anzahl der gespielten Werke, wobei wiederum zwei Komponistinnen im Mittelpunkt standen. So kurzweilig und charmant nämlich einige der Polonaisen und Etüden der Polin Maria Szymanowska auch waren, der Gesamteindruck der beiden ihr gewidmeten Programmblöcke wurde durch die pure Fülle und manches wie vom Blatt gespielt wirkende, weniger inspirierte Stück doch stark eingeschränkt. Auch von Clara Schumanns Romanzen hättenes nicht unbedingt vier am Stück sein müssen, waren doch schon die g-Moll-Sonate und besonders die Variationen op. 9 eindrucksvolle Belege für ihr kompositorisches Genie gewesen. Für die abschließende Waldstein-Sonate schienen dann Carlins zuvor so selbstverständlich eingesetzten manuellen und gestalterischen Reserven (wie das Instrument selbst) zumindest teilweise an ihre Grenzen zu gelangen, was den Pianisten aber nicht daran hinderte, mit vollem Risiko und vielen überzeugenden Interpretationsideen an diese Herausforderung heranzugehen.
Die Frage nach dem Repertoire, das mit Hilfe der historischen Aufführungspraxis zu neuem Leben erweckt werden soll, scheint in den letzten Jahren verstärkt zu einem Problem zu werden. Zwar hat sich das Spektrum rein zeitlich durch die Einbeziehung des klassischen und mittlerweile sogar des romantischen Repertoires erweitert, für die auf einen bestimmten Musikstil spezialisierten Ensembles bleibt aber die Schwierigkeit bestehen, neben den bewährten ‚Schlagern‘ weitere hochwertige Musik ans Tageslicht zu holen. Was etwa die Sonatori de la Gioiosa Marca an venezianischer Instrumentalmusik des 17. Jahrhunderts unter dem Titel „Balli, Capricci e Stravaganze“ präsentierten, ließ nur stellenweise (z. B. bei Tarquinio Merulas Capriccio Cromatico oder Carlo Farinas berühmtem Capriccio Stravagante) wirklich aufhorchen, worüber auch die routinierte Flottheit der Darbietung nicht hinwegzutäuschen vermochte. Im Programm des belgischen Barockorchesters Il Fondamento bildete in ähnlicher Weise ein Geniestreich Jan Dismas Zelenkas (Hipocondrie) einen kurzen und einsamen Höhepunkt. Die flüssige und überwiegend saubere Spielweise des Ensembles empfindet man inzwischen soweit als Standard, daß Konzerte und Ouvertüren von Fasch und Telemann dadurch auch nicht wesentlich über das Niveau solider Dutzendware gehoben werden. Vielleicht war hier aber auch der direkte Vergleich mit der Berliner Akademie für Alte Musik ein entscheidender Faktor, denn diese hatte das Eröffnungskonzert mit mitreißendem Schwung gestaltet und erwies sich auch bei der Werkauswahl mit der Gegenüberstellung von Telemann und Carl Philipp Emanuel Bach als die einfallsreichere Formation.
Von vornherein spannender versprachen eigentlich die Auftritte zweier kleinerer amerikanischer Vokalensembles zu werden: Auf der einen Seite die sechs Männerstimmen von Lionheart mit früher Mehrstimmigkeit der Notre-Dame-Epoche, auf der anderen Seite Tapestry (drei Frauen) mit Vertonungen von Teilen des Canticum Canticorum aus Mittelalter und Gegenwart. Rein stimmlich waren letztere ihren männlichen Kollegen klar überlegen, aber die stilistische Vielfalt ihres Programms, die neben dem Epochenkontrast auch durch hebräische Kantillationen und die überzeugenden Beiträge der Gastinstrumentalistin Shira Kammen auf der Fiedel zustandekam, wurde nivelliert durch einen permanenten Willen zur vokalen Ekstase, von dem die Sängerinnen beseelt zu sein schienen. Ob sie nun die (wenig bahnbrechenden) zeitgenössischen Vertonungen oder einen Gesang aus den Worcester-Fragmenten (auf recht eigenwillige Weise) anstimmten: das klangliche Ergebnis blieb doch ähnlich und war auf Dauer ermüdend. Bei Lionheart kam zu vereinzelten Schwächen im Sängerischen eine wenig konsistente Mischung von weltlichen und geistlichen Werken hinzu, die ohne nennenswerte Differenzierung in der Darbietungsweise aneinandergereiht wurden. Ähnlich dürftig, wie hierzu die Kommentare eines Ensemblemitglieds im Programmheft ausfielen, war auch die Begründung, die John Dornenburg von Sex Chordae Consort of Viols (San Francisco) dafür anzubieten hatte, Chansons und Motetten von Josquin, Isaac und anderen mit einer oder zwei Gesangsstimmen und der Auffüllung des Satzes durch ein Gambenconsort aufzuführen. Sie lautete etwa so: Zu Josquins Zeit war Gambenmusik beliebt, und seine Musik eignet sich für dieses Instrumentarium. Ehrlicher hätte das schlichte Bekenntnis gewirkt, man habe einfach Lust auf dieses Experiment gehabt, und wichtiger wäre allemal eine überzeugende Umsetzung gewesen. Denn was bei volkstümlicheren Vertonungen mit mehr oder weniger eindeutig auszumachender ‚Hauptstimme‘ noch halbwegs funktionierte, wurde bei zerbrechlicheren kontrapunktischen Gebilden nicht zuletzt dadurch problematisch, daß sich die Sopranistin Susan Rode Morris ungleich schwächer im Gesamtklang zu behaupten wußte als ihr Tenorkollege Scott Whitaker.
Mitreißend und abwechslungsreich verlief dagegen die Matinee mit der ebenfalls amerikanischen Renaissance Band Piffaro, die gemeinsam mit dem Concord Ensemble, einem jungen männlichen Vokalsextett, in schlüssigen thematischen Blöcken eine Art klingender Geschichte von Florenz unter der Regentschaft der Medici zu Gehör brachte. Die Musikerinnen und Musiker, die jeweils eine Vielzahl von Instrumenten (Schalmeien, Blockflöten, Dudelsack, Posaunen etc.) beherrschen, vermochten in immer neuen Besetzungsvarianten jedem Stück einen ganz eigenen Ton zu verleihen. Der Chor hatte einige a-capella-Auftritte, begeisterte aber vor allem in Verbindung mit den Instrumentalisten.
Wie von Ludwig Hartmann, einem der Organisatoren zu erfahren war, werden die für das kommende Jahr angekündigten Tage alter und neuer Musik (9.–18. Juni 2000) mit dem traditionellen, ‚alten‘ Wochenende beginnen, dem dann einige gemischte Programme und ein Wochenende mit ausschließlich neuer Musik folgen sollen. Auf diese Öffnung kann man nur gespannt sein, Hartmann selbst bekennt allerdings freimütig, das finanzielle Risiko für die Moderne nicht tragen zu können – das überläßt er dann doch lieber den städtischen Millenniumsfeierlichkeiten. Wie hieß doch gleich Händels erstes Oratorium, mit dem das Festival ausklang? Richtig: Il trionfo del Tempo e del Disinganno ...