Mälzels Magazin

Zeitschrift für Musikkultur in Regensburg

Schriftzug Mälzels Magazin
Hefte1999Nr. 4
mälzels magazin, Heft 4/1999, S. 7–11
URL: http://www.maelzels-magazin.de/1999/4_04_simbriger.html

Axel Schröter

Heinrich Simbriger – Komponist und Archivleiter

I

Mittlerweile ist es etwa ein Jahr her, daß das Musikarchiv der Künstlergilde e. V. von Regensburg nach Bonn verlegt wurde. Es war der Komponist und Musiktheoretiker Heinrich Simbriger, der in der letzten Dekade seines Lebens – nachdem er Anfang 1966 von München nach Regensburg übersiedelt war – in mühevoller Kleinarbeit dieses Archiv in dem alten gotischen Haus Nr. 8 der Silbernen-Kranz-Gasse aufgebaut hatte. Sämtliche noch lebenden Komponisten aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten hatte er darum gebeten, dem Musikarchiv der Künstlergilde ihre Kompositionen in Abschriften, Kopien oder im Original zu schicken bzw. sie ihm wenigstens zu nennen. Mochte dieses Projekt zunächst auch als Illusion erscheinen, sein Impuls stieß auf rege Resonanz. Innerhalb weniger Jahre konnten sechs umfangreiche Werkkataloge erstellt werden, die in bemerkenswerter Vollständigkeit die Werke jener Komponisten verzeichnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. Darüber hinaus wurde Notenmaterial in Form von Fotokopien, Abschriften, Lichtpausen, Autographen oder Drucken zusammengetragen, das einen Fundus an unverbrauchten Musikstücken für den ausübenden Musiker darstellt und auch der Musikforschung ein bislang noch nicht im entferntesten begangenes Terrain präsentiert.

Wie sehr der Bestand des Musikarchivs der Künstlergilde zu Lebzeiten Simbrigers genutzt wurde, davon legt die umfangreiche Korrespondenz ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Nicht nur führende Persönlichkeiten und Ensembles des Musiklebens wie der unvergessene Anton Nowakowski, das Magda-Rusy-Trio, das Münchner Bläserquintett (unter der Leitung Karl Kolbingers) oder das Symphonieorchester Graunke wandten sich an Simbriger mit der Bitte, geeignete Kompositionen zu Aufführungszwecken zuzusenden, auch Vertreter der Musikwissenschaft konnten sich bei ihm stets Rat und Anregungen holen, insbesondere dann, wenn sie sich für Komponisten interessierten, die ihre Existenz fernab vom konventionellen Konzertbetrieb führten.

II

Gleichermaßen beeindruckend wie problematisch ist an Simbrigers Versuch der Archivierung sämtlicher Werke zeitgenössischer Komponisten aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, daß er im Hinblick auf die kompositorische Qualität keinerlei Bedingungen stellte. Nichts lag ihm ferner, als selektierend zu wirken. Das Bewahren des kulturellen Erbes stand im Vordergrund, nicht die Frage nach dem ästhetischen Wert der Kompositionen. Simbriger betrachtete das Werk eines Günther Bialas mit demselben Respekt wie das eines Hans Gresser. Und er war davon überzeugt, daß jedes der von ihm gesammelten Stücke einmal eine Renaissance erfahren könnte. Von blinder Fortschrittsanbetung hielt er wenig, und erst recht nichts von Originalität um ihrer selbst willen. Da berief er sich lieber auf Goethe: „Goethes bekannter Ausspruch ‚Alle vernünftigen Gedanken sind schon einmal gedacht worden; man muß sich nur die Mühe nehmen, sie noch einmal zu denken‘ läßt sich mutatis mutandis auch auf die Künste anwenden. Noch einmal empfinden, noch einmal gestalten heißt aber zugleich auch neu gestalten und damit aus der Tiefe des unendlichen Lebensstromes einen neuen Klang, eine neue Farbe, ein neues Wort, eine neue Geste, eine neue Nüance schöpfen, die vorher noch nicht da waren oder doch wenigstens durch die neue Nachbarschaft neuartig geworden sind.“

III

Wäre Simbriger ausschließlich Archivleiter gewesen, hätte er ‚nur‘ das Musikarchiv der Künstlergilde in Regensburg aufgebaut, so hätte allein dies genügt, Zeichnung Simbriger ihm einen angemessenen Platz in der Musikgeschichte zu sichern. Doch Simbriger war mehr als ein von Sammelleidenschaft besessener Archivar, und es fällt schwer, die heterogenen Züge seines Wesens auf einen Nenner zu bringen. Man wird Simbriger sicherlich am ehesten gerecht, wenn man sagt, er sei im Grunde seines Wesens Komponist gewesen. Und zwar einer, der nicht seine spontanen Empfindungen in Tönen formte, sondern sich zu jedem Zeitpunkt des Komponierens Rechenschaft ablegte über das, was er tat, und der darüber hinaus versuchte, aus seinen Kompositionen ein System zu abstrahieren, nach dem er fortan, sofern es sich in Regeln fassen ließ, weiter komponieren konnte.

Simbriger begriff Musik als Möglichkeit, zu einem höheren Sinn des Daseins vorzudringen, versuchte, sein Schaffen als Teil eines kosmologischen Ganzen zu begreifen. Er gelangte zu seinem Weltbild wohl hauptsächlich durch Empathie mit der Welt des alten China, die er – ohne das Chinesische jemals erlernt zu haben – in einem Buch zu charakterisieren versuchte, das zu Beginn der sechziger Jahre unter dem Titel „Geheimnis der Mitte“ im Diederichs-Verlag erschien, aber (leider) keine zweite Auflage erlebte. Vieles von dem, was dort gesagt wird, scheint bereits in Simbrigers 1937 vollendeter Dissertation präformiert: „Gong und Gongspiele“ lautet der Titel dieser Arbeit, die in der Musikethnologie noch heute zu den bedeutendsten Studien des Faches gezählt wird.

IV

Simbrigers Entwicklung als Künstler und Mensch verlief in keiner Weise geradlinig. Mit zwölf Jahren legte er zwar bereits erste Kompositionen vor, doch widmete er sich in diesem Alter ebenso botanischen Studien. Bevor er in der Musik seinem ureigenen Wesen begegnete, das er dann mit beneidenswerter Konsequenz entwickeln sollte, immatrikulierte er sich zunächst in Prag für die Fächer Medizin, Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft. Dann studierte er – ebenfalls in Prag – bei Fidelio Fritz Finke Komposition und bei Alexander von Zemlinsky Dirigieren. Aus gesundheitlichen Gründen – Simbriger litt an einer Lungenerkrankung – übersiedelte er nach Italien, wo er unmittelbar mit der italienischen Gesangskunst, respektive der italienischen Oper konfrontiert wurde.

1925 kam er nach Deutschland zurück und studierte in München als Privatschüler bei Joseph Haas. Erfolge in der Öffentlichkeit schlossen sich an. So konnte Simbriger ab 1927 in Wien seine Ausbildung fortsetzen. Er widmete sich als Privatschüler von Josef Lechthaler der Kirchenmusik und gelangte alsbald in den Kreis um Josef Matthias Hauer, dessen Zwölftontechnik ihn fortan beschäftigte. Unterließ es Simbriger zunächst auch, die Einflüsse der Zwölftonmusik Hauers in sein Schaffen aufzunehmen, so kann doch die Begegnung mit dem Schönbergantipoden kaum hoch genug eingeschätzt werden. So knüpfte er in den 50er Jahren mit der aus seinem eigenen Schaffen abgeleiteten und systematisierten Theorie der Zwölftonmusik am ehesten an das an, was Hauer in seiner Tropenlehre nur angerissen hatte. Inwieweit Simbrigers Lehren von der Klangführung in der Zwölftonmusik und die Idee der „Komplementären Harmonik“ – so seine Bezeichnung – mit dem Hauerschen Denken konvergieren, inwieweit sie sich von diesem entfernen oder aber eine konsequente Weiterentwicklung des Hauerschen Systems darstellen, ist bis heute nicht einmal in Ansätzen erforscht.

Fatal wirkte sich auf Simbrigers Werdegang der Zweite Weltkrieg aus. Sein Amt als designierter Leiter des Rundfunks in Prag mußte er nach dem Einmarsch Hitlers aufgeben. Erfolge, die er etwa bei dem Chorfestival in Graz 1939 hatte, und die ihn in das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit rückten, wurden eingedämmt. Da half es wenig, daß seine George-Vertonungen op. 3 gedruckt wurden und auch die Violasonate op. 22, die Cellosonate op. 26 sowie die Chorsätze op. 34 und 35 bei Kahnt in Leipzig erschienen. Ja, hätte Simbriger nicht vorsorglich einen Großteil seiner Werke nach Hall in Tirol bei seinem Bruder Erwin ausgelagert, so wären die Frühwerke und die Kompositionen aus der Zeit bis 1943 wohl unwiederbringlich verloren.

Aus der Zeit, die Simbriger in der Wehrmacht verbrachte (er war ab 1943 in Nord-Norwegen in der Gegend von Narvik stationiert), ist an musikalischen Werken nichts erhalten. Seine kompositorische Schaffenskraft setzte erst wieder 1946 im Kriegsgefangenenlager Rennes ein. Nachdem sich Simbriger nach dem Krieg in Murnau (Oberbayern) niederließ, begann eine intensivere kompositorische Tätigkeit, mit einem Schwerpunkt auf der geistlichen Musik. Dies war nicht zuletzt darin begründet, daß Simbriger Leiter des Kirchenchores in Murnau wurde. So entstanden in den Jahren 1946 bis 1951 die große „Murnauer Festmesse“, die „Weihnachtskantate“, die Solokantate „Es flog ein Täublein weiße“ und anderes. Die aus diesen Werken sprechende Religiosität ist keine aufgesetzte. Simbriger bekannte sich zeitlebens zum Christentum, mochte er auch zahlreiche Gedanken fernöstlicher Philosophie in sein Denken integriert haben.

Einen neuen Weg schlug er während der Münchner Zeit (1951–1965) ein. Ab seinem Opus 77, den Inventionen für Klavier, komponierte er in der von ihm später so genannten Technik der „Komplementären Harmonik“. Die Stücke, die er fortan in sein Werkverzeichnis aufnahm, wurden über die Opuszahl hinaus mit „Zwölftonkomposition Nr. ...“ bezeichnet.

Auch entwickelte Simbriger in München eine rege Tätigkeit als Musikschriftsteller. Er wurde Feuilletonredakteur der Sudetendeutschen Zeitung, arbeitete als freischaffender Komponist, engagierte sich für die Künstlergilde oder trat als Wissenschaftler auf internationalen Tagungen in Erscheinung, so beim Mozart-Kongreß in Wien 1956. Bereits 1950 erhielt er den Sudetendeutschen Kulturpreis für Musik, damals noch „Förderpreis“ genannt.

Seine Bemühungen, eine Professur oder Dozentur an einer Hochschule bzw. Universität zu erhalten, schlugen allerdings selbst in München fehl, wo ihm die Protektion von seiten Joseph Haas‘ sicher war. So nahm er schließlich 1956/57 eine Stelle beim Bayerischen Statistischen Landesamt an, die ihn so sehr auslastete, daß ihm zum Komponieren kaum noch Zeit blieb.

V

Erst mit dem Umzug nach Regensburg (Januar 1966) fand Simbriger eben seinem Einsatz für den Aufbau des Musikarchivs der Künstlergilde auch die Ruhe und Kraft, wieder schöpferisch als Musiktheoretiker und Komponist tätig zu werden. Es gelang ihm nicht nur, seine großen Traktate zu vollenden, er überarbeitete auch nahezu sämtliche Werke. Überdies entstanden wichtige neue Kompositionen: das 4. Streichquartett, die Vertonungen Bodmershoffscher Lyrik, die Klavierstücke op. 109, die Violinsonate op. 110, das Triptychon für Orgel op. 111 oder die „Musica spiritualis“ op. 136. Und in Regensburg gelangten dann auch wieder zahlreiche seiner Stücke zur Aufführung. So erklangen am 10. September 1971 in einem Gedenkkonzert an Anton Nowakowski im Rahmen des 15. Sudetendeutschen Künstlertreffens seine „Trauermusik für Violine und Orgel“ op. 114, und am 19. November 1974 aus Anlaß eines Kammerkonzertes des Studios Neue Musik Oberpfalz das Trio op. 118.

Weitere in Regensburg uraufgeführte oder wieder aufgeführte Werke waren unter anderem die Streichtrios op. 45 und op. 137, die Klavierstücke op. 109, die Liederzyklen „De profundis“ op. 98 und „Herbst“ op. 99, die Sonaten für Violine und Klavier op. 110, Klarinette und Klavier op. 105, Fagott und Klavier op. 106, Oboe und Klavier op. 91 sowie Violoncello und Klavier op. 81, die Tuschbilder op. 113, das „Divertimento retrospettivo“ für Trompete und Klavier op. 127, die Blasmusiken in alten Tonarten op. 23, Lieder aus op. 33 sowie die sogenannte „Kleine Messe“ op. 43b für mittlere Stimme solo und Orgel.

VI

Die Frucht, die Simbriger der Nachwelt hinterließ, ist, unabhängig von dem, was er für seine Zeitgenossen tat, reich. Im Zuge der Arbeit an einem Werkverzeichnis wurde die Fülle des Materials jetzt erstmals ersichtlich. Neben 138 Kompositionen mit Opuszahl sind 22 weitere Werkgruppen erhalten geblieben und darüber hinaus eine schier unerschöpfliche Vielzahl an Schriften. Zur Zeit schlummert all das im Musikarchiv der Künstlergilde in Bonn. Aber auch in der Bayerischen Staatsbibliothek München liegt nahezu der komplette Bestand seiner Werke – teils in fotokopierter, teils in handschriftlicher Form – vor. Überdies sandte Erna Simbriger Kopien sämtlicher Werke mit Opuszahl an die Österreichische Nationalbibliothek Wien. Der Witwe des Komponisten ist im übrigen auch die Errichtung der Heinrich-Simbriger-Stiftung am Sudetendeutschen Musikinstitut (Träger: Bezirk Oberpfalz) zu verdanken. Möge sein Werk, um es mit den Worten Simbrigers zu sagen, seiner „fröhlichen Auferstehung“ harren, wann immer diese Zeit auch kommen möge.

Simbriger, Heinrich:
Gong und Gongspiele, Leyden 1939
Handbuch der musikalischen Akustik, Regensburg 1951
Werkkatalog zeitgenössischer Komponisten aus den deutschen Ostgebieten, Bd. 1–6, Esslingen 1955–1974
Geheimnis der Mitte. Aus dem geistigen Vermächtnis des alten China, Düsseldorf 1961
Komplementäre Harmonik, Esslingen 1979, 2. Aufl. 1980
Die Klangführung in der Zwölftonmusik. Peritonale Harmonik, Esslingen o.J.

Sekundärliteratur:
– Roscher, Wolfgang: Ein sudetendeutscher Zwölftöner. Heinrich Simbriger. In: Sudetenland 3 (1961), S. 106–112.
– Nowakowski, Anton: Der Komponist Heinrich Simbriger – 60 Jahre. In: Sudetendeutscher Kulturalmanach 4 (1963), S. 187–189.
– Emmerig, Thomas: Dr. Heinrich Simbriger (1903–1976): Komponist, Musiktheoretiker und Archivleiter. In: Musik in Bayern 36 (1988), S. 43–55.
– Speer, Gotthard: Zum Tode von Heinrich Simbriger. In: Sudetenland 18 (1976), S. 295ff.
– Schröter, Axel: Heinrich Simbriger. Verzeichnis sämtlicher Werke und Schriften. (= Veröffentlichungen des Sudetendeutschen Musikinstituts, hrsg. v. Widmar Hader, Bd. 5) – ca. 430 S., Druck i. Vorb.

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