Sabine Krauß / Hildegard Franz
Regensburger Kultursommer am Haidplatz Juli/August ’99
Der Begriff „Fun- und Freizeitgesellschaft“ – vormals fast ein Unwort – hält immer mehr Einzug in den deutschen Sprachgebrauch. Wurde dieses Phänomen früher noch als Jugendspezifikum abgetan (immer lauter, immer schneller, immer mehr action) so macht in der Zwischenzeit diese Entwicklung langsam aber sicher auch keinen Halt mehr vor den Wohnzimmern des Normalbürgers, sogar des sogenannten Bildungsbürgertums. Regensburgs ‚Wohnzimmer‘, der Haidplatz, ist hier keine Ausnahme. Zum zweiten Mal nach 1997 hatten Musikliebhaber wieder Gelegenheit, dort Konzerte, Opernaufführungen sowie Film- und Tanzdarbietungen unter freiem Himmel zu erleben: Doch machte ausgerechnet die einzige wirkliche Unwägbarkeit eines solchen Spektakels den Organisatoren einen Strich durch die Rechnung und ließ am Premierenabend so gar keine Festivalstimmung aufkommen: das Wetter. Statt lauem Sommerlüftchen herrschten eher frostige Temperaturen, und ein grauer Himmel ließ den geplanten glänzenden Start mit Mozarts Don Giovanni buchstäblich ins Wasser fallen. Statt Freiluftspektakel eine konzertante Aufführung in der Tristesse des Audimax.
War es auf dem Haidplatz nötig, die problematische Akustik durch Verstärkeranlagen auszugleichen, funktionierte dies im Audimax natürlich relativ unkompliziert – was allerdings dazu führte, daß das Orchester bisweilen zu stark in den Vordergrund trat. Aufgrund der notgedrungen ‚amputierten‘ Darbietung, die gänzlich ohne Bühnenbild, Requisite und nahezu ohne schauspielerische Gestik und Theatralik auskommen mußte, taten sich die Ausführenden anfangs schwer, in dem kargen Ambiente Opernstimmung aufkommen zu lassen. Doch vor allem dank der Spielfreude des Orchesters, die auch die Agierenden mitriß, sprang der Funke bisweilen doch auf das Publikum über. Unter der sensiblen und präzisen Leitung Guido Johannes Rumstadts, der neben dem Dirigat auch die Begleitung der Rezitative auf dem Cembalo übernahm, begeisterte vor allem Majella Cullagh als Donna Anna, die die verschiedensten Facetten ihrer anspruchsvollen Partie überzeugend interpretierte. Unbedingt erwähnt werden muß auch der engagiert agierende Straubinger Kammerchor, der in der Einstudierung seines bewährten Leiters Gerold Huber in den wenigen Chorszenen bäuerliche Sanges- und Lebensfreude glaubhaft auf die Bühne brachte. Die Folgeaufführungen, bei denen dann auch das Wetter mitspielte, entwickelten sich zu einem großen Erfolg.
Gänzlich andere Hörerlebnisse erwarteten das Publikum in den nächsten Tagen. So konfrontierte das Programm des Symphonischen Blasorchesters Regensburg unter der Leitung von Wolfgang Graef die Besucher mit unbekannten Werken und Komponisten (von Johann Strauß und Gershwin natürlich abgesehen) und ließ ihnen nichts anderes übrig, als sich ganz gespannt ihrem Schicksal zu fügen. Zu einem unerwarteten Highlight kam es dabei beim letzten Programmpunkt, Eric Whitacres Godzilla eats Las Vegas! So mancher im Publikum glaubte zwar seinen eigenen Augen nicht zu trauen, als eine Horde offensichtlich amerikanischer Touristinnen, bewaffnet mit Stadtplänen, Feldstechern und Kameras, die Bühne enterte. Ein Blick ins Programmheft genügte jedoch, um die kreischenden Damen als Sängerinnen des Neutraublinger Chores Vocalis zu identifizieren, die eine nicht unwichtige Rolle in diesem überaus witzigen Stück spielten. So ließ sich auch mitverfolgen, wie Godzilla zum Schrecken kreischender Touristen (Vocalis!) in Las Vegas einfällt. Durch die Vielzahl der Effekte und die Komik der Komposition angeregt, fanden die Musiker (unterstützt durch die begeistert mitgehenden Sängerinnen) zu einer wirklich mitreißenden Darbietung, die das Publikum dann auch mit euphorischem Applaus bedachte.
Ludwig van Beethovens 9. Symphonie darf natürlich bei keinem besseren Klassik-Event fehlen, und so kamen auch die Regensburger in den Genuß dieses epochemachenden Werkes, hier interpretiert vom Universitätschor, der Regensburger Kantorei und der Mährischen Philharmonie Olmütz unter der Leitung von Christian Kroll. Obwohl äußerst beliebt bei Open-Air-Veranstaltungen, kommt hier gerade im letzten Satz im Zusammenspiel von Solisten, Chor und Orchester die ganze Problematik des Musizierens unter freiem Himmel zum Tragen, wenn selbst unmittelbar benachbarte Stimmen sich gegenseitig nur schlecht hören. Aber auch die Zuhörer, vor allem in den ersten Reihen, hatten mit der schlechten Akustik zu kämpfen, da die Musiker auf der erhöhten Bühne quasi über ihre Köpfe hinwegspielten. Immer unter der Prämisse dieses Handicaps kann dennoch konstatiert werden, daß Christian Kroll Orchester und Sänger gut im Griff hatte, wenn die Mährische Philharmonie zum Teil auch etwas müde und lustlos wirkte. Die Tempi waren durchwegs gut gewählt, im Chorsatz vielleicht etwas überzogen, was dann zu Abstimmungsschwierigkeiten führte. Die Solisten (Ursula Hennig, Adelheid Peper, Thomas Dewald und Friedemann Kunders) konnten wohl aufgrund der widrigen Umstände nicht ganz überzeugen.
Gidon Kremer und der Kremerata Baltica darf vielleicht kein Vorwurf gemacht werden, daß die Ausführung eines eigentlich sehr gefälligen Konzertprogramms dem Ambiente des Haidplatzfestivals angepaßt wurde. Leider ist aber anzunehmen, daß hier nicht das Ambiente, sondern das Publikum der eigentliche Autor des ereignisreichen Abends war.
Nach dem eher besinnlichen ersten Teil erwies sich Alfred Schnittkes Werk Moz-art à la Haydn für zwei Violinen und Streicher als durchaus amüsant. Im zeitgenössischen Rahmen muteten hier Spielereien wie fröhliches Ringelreihen und Plätzchen wechsle dich, noch recht possierlich an, obwohl auf die eine oder andere Geste aus akustischen Gründen durchaus hätte verzichtet werden können. Dem Publikum gefiel es jedenfalls. Davon animiert, ritt Kremer begeistert auf der Erfolgswelle weiter. Sowohl in der Sinfonia concertante als auch in der Serenata notturna Mozarts gab es eifriges Hin und Her und Auf und Nieder und immer wieder und immer wieder. Unvermittelte Paukensoli entwickelten sich zum Running-Gag, das sanfte Zusammenspiel von Violine und Viola mutierte zur kuriosen Streiterei, nach dem Motto: wer zuletzt streicht, streicht am längsten. Der gemäßigt begeisterte Applaus des ersten Teils steigerte sich daraufhin in wahre Begeisterungsstürme, wenn sich das Wechselspielchen erneut wiederholte. Inhalt und Interpretation traten dabei leider in den Hintergrund. Doch wen interessiert das bei so viel freiwilliger Komik.
Einen spannenden Kontrast zu dem Auftritt Gidon Kremers bildete der folgende Abend mit Giora Feidman, der sich ebenfalls nicht an die herkömmlichen Regeln eines Konzerts hielt. Wohlbekannt aus den einschlägigen Medien und durch vorherige Auftritte in Regensburg, wußte das Publikum hier bereits vorher, was es zu erwarten hatte: Klezmer, und laut Programmheft einen Streifzug durch gängige E- und U-Musik. Eine Erklärung für dieses Potpourri lieferte Feidman selbst: Musik sei grenzenlos. Deshalb könne er nicht von sich behaupten, daß sein musikalisches Schaffen auf den Begriff ‚seiner‘ Musik zu reduzieren sei. Man könne Musik nicht besitzen, sie klänge für jeden anders. Entsprechend mühelos verbindet er dann Scott Joplins Entertainer mit Mi Ha’ish und Schuberts Ave Maria. Gerade darin beruht der eindringlich-unaufdringliche Charme des ganzen Abends. So wie zwischen den Musikrichtungen alle Hindernisse eingerissen werden, so sind auch die Grenzen zwischen Künstlern und Publikum fließend. Feidman mischt sich unter die Zuhörer, läßt sich von ihnen begleiten, plaudert: über Gott und die Welt, argentinisches Rindfleisch, deutsches Bier, und leise streift er auch die Geschichte dieses Jahrhunderts. Doch ehe man sich besinnen kann, ertönen die heißen Tangorhythmen seines Lehrers Piazolla. Da vermißt man nicht das Bandoneon – wie selbstverständlich übernimmt die Klarinette diesen Part, genauso wie sie mühelos die Rolle der Streicher in der 1. Symphonie Gustav Mahlers einnehmen kann.
Über die Akzeptanz seines Programmes ist Feidman dennoch verstimmt. Ebenso das Publikum: Pizza, Pizza – das übliche Gelächter und Geklapper weht herüber. Feidman möchte es nicht glauben, daß die Menschen außerhalb des Eintrittsbereiches nicht hören, was auf der Bühne vorgeht. Muß man nicht lauschen, was die Klarinette spricht, wie sie singt und bittet? Feidman versucht es. Die Klarinette lockt mit süßen Weisen, er hält kurz inne, lauscht und versucht es wieder, fordernd jetzt, lauscht – vergebens. Es macht ihn wütend und traurig.
Auch wenn es ihm nicht gelingt, alle Anwesenden zu erreichen, so versteht er es dennoch, sein zahlendes Publikum mitzureißen. Alle singen mit ihm. Alle singen gerne. Und alle singen noch, nachdem er längst die Bühne verlassen hat. Es gibt keine Grenzen in der Musik. Es gibt keine Grenzen zwischen Künstlern und Publikum. Und es gibt keine Grenzen im Publikum selbst. Ob alt, ob jung, ob reich, ob ... (die nun folgende Personengruppe war leider aufgrund der Eintrittspreise ausgeschlossen). Alle singen also und lächeln sich an, jedenfalls die, die noch nicht italienisch essen waren.