Klaus Thomayer
Die ersten hundert Jahre des evangelischen Kantorats in Regensburg
Im Jahr 1542 waren Magistrat und Bürgerschaft Regensburgs nach längeren konfessionellen Auseinandersetzungen zum protestantischen Bekenntnis übergetreten. Zu einem Zentrum des evangelischen Lebens entwickelte sich, wie anderswo auch, die örtliche Lateinschule. Diese war bereits 1505 von dem Humanisten Joseph Grünpeck als „Poetenschule“ gegründet worden und erhielt kurz darauf den Namen „Gymnasium poeticum“. Nach mehreren behelfsmäßigen Unterkünften erwarb der Rat der Stadt 1531 ein Haus in der heutigen Gesandtenstraße (heute sind dort u. a. das evangelische Bildungswerk und die Staatliche Bibliothek untergebracht), wohin das Gymnasium 1537/38 dauerhaft umzog. Die Kantoren hatten neben ihren kirchenmusikalischen Aufgaben (Orgelspiel und Leitung des Schülerchors) und allgemeiner Lehrtätigkeit insbesondere für den Musikunterricht an der Schule zu sorgen. Durch diese Doppelfunktion stellten die Kantoren das Bindeglied zwischen Schule und Kirche, aber auch zwischen Schule und öffentlichem Leben dar, denn der Schülerchor wurde neben kirchlichen Aufgaben auch zur Ausgestaltung politischer, gesellschaftlicher und kultureller Anlässe herangezogen. Somit läßt sich ein Bild des evangelischen Musiklebens in den ersten hundert Jahren des protestantischen Regensburg anhand der Reihe der Kantoren zeichnen, wenn auch die zum Teil sehr lückenhafte Quellenlage das Bild manchmal etwas verzerrt. Es ist das Verdienst Raimund W. Sterls hier die entscheidende Pionierarbeit geleistet zu haben (s. Literatur).
Der offizielle Dienstbeginn Johann Stengels, des ersten Regensburger Kantors, fiel mit der Einführung des evangelischen Bekenntnisses in Regensburg zusammen. Bei der Vesper am 14. Oktober 1542 und tags darauf bei der ersten öffentlichen Abendmahlsfeier leitete er den aus Schülern des Gymnasium poeticum sowie einigen Adstanten („Helfer“, die v. a. die Männerstimmen besetzten) bestehenden Chor. Entgegen der üblichen Einteilung unterrichtete Stengel nicht die zweite, sondern die unterste Klasse am Gymnasium. In einem Entwurf zur Regelung des Kantoren-Dienstes schlug er unter anderem vor, daß zwölf musikalisch besonders begabte Schüler den Kern des Chores bilden sollten. Auf der Basis einer Art Stipendium (freie Kost und Wohnung, Schulgeldfreiheit und ein kleines Taschengeld) sollten sie in einem zur Schule gehörenden Internat untergebracht werden. Da der Chor für die Liturgie unabdingbar war, die Kinder wohlhabender Bürger sich aber von der Verpflichtung zur Mitwirkung bei den Gottesdiensten „freikaufen“ konnten, folgten die Verantwortlichen diesem Vorschlag umgehend mit der Gründung eines „Alumneums“. Die Schüler – offenbar nur neun bis zehn an der Zahl – wurden dementsprechend „Alumnen“ genannt.
Während der Amtszeit Stengels gelangte auch das sog. „Umsingen“ zu großer Blüte. An jedem Sonntag- und Mittwochnachmittag zogen die Schüler des Gymnasiums nach einer festgelegten Route durch die Straßen und sangen geistliche Lieder, wofür sie von den Bürgern mit kleinen Spenden für das Gymnasium belohnt wurden. Da dies der Verbreitung und Festigung der evanngelischen Gesinnung unter der Bevölkerung förderlich war, wurde dieser Brauch vom Rat der Stadt geduldet, wenn nicht gar ausdrücklich gefördert. Zudem sollte auf diese Weise das protestantische Liedgut unter der Bevölkerung bekannt gemacht werden, so daß die Gemeinde im Gottesdienst mitsingen konnte, was von Seiten der evangelischen Glaubensführer – allen voran Luther selbst – ausdrücklich gewünscht war. Obwohl die Schüler- und Adstanten-Chöre durch das Singen auch deutscher Lieder die Gemeinde zum Mitsingen anregen sollten, beteiligte sich die Gemeinde anfangs nur zögerlich an den Chorälen, die dem Brauch der Zeit folgend ohne Orgelbegleitung ausgeführt wurden. Von Stengel sind keine Kompositionen überliefert, er war jedoch als Kopist von Chorbüchern, also dem Aufführungsmaterial für den Chor, tätig.
1553 übernahm der 1521 in Istrien geborene Stephan Consul das Kantorenamt von Stengel. Für 1559 ist belegt, daß er sich auch als Prediger betätigte. Über seine musikalischen Aktivitäten ist kaum etwas bekannt. Spätestens 1568 muß er Regensburg bereits wieder verlassen haben, da er ab diesem Jahr als Prediger in Eisenstadt wirkte, wo er 1579 starb.
Von 1556 an bekleidete Johannes Buchmayer (ca. 1520–1591) das Amt des evangelischen Kantors in Regensburg, nachdem er in dieser Funktion bereits 1550–1553 am Heilig-Geist-Spital in Nürnberg tätig gewesen war. 1560 widmete er dem Rat der Stadt Regensburg ein Chorbuch mit eigenen Kompositionen für die Messe, die den Vergleich mit seinen Zeitgenossen nicht zu scheuen brauchen. Daneben enthält dieser Codex Bearbeitungen bzw. Abschriften von Werken anderer Komponisten, u. a. Josquin Desprez und Heinrich Isaac. Die offizielle Verwendung von Musik dieser eindeutig „katholischen“ Komponisten im evangelischen Gottesdienst ist nur ein Aspekt der Nähe der frühen evangelischen Liturgie zur katholischen Meßfeier und verweist andererseits auf eine überkonfessionelle Musiksprache der Zeit.
Um 1560 scheint Buchmayer den Zenit seiner Karriere überschritten zu haben. Immer öfter wurde seine Trunksucht angeprangert. 1564 mußte er auf Verlangen des Rates und trotz der Fürsprache einflußreicher Persönlichkeiten sein Amt niederlegen. Knapp ein Jahr später wurde er aber wieder eingestellt, allerdings unter der Auflage, sich künftig des Trinkens zu enthalten. Ab 1572 wirkte er an seiner alten Arbeitsstelle in Nürnberg, nachdem er 1566 in Regensburg endgültig entlassen worden war.
Als Buchmayer 1564 vorübergehend außer Dienst war, übernahm Balthasar Nusser den Dienst als Lehrer am Gymnasium, und ab 1566, dem Jahr der endgültigen Entlassung seines Vorgängers, auch die musikalischen Aufgaben. 1578 führte er den Titel „Ecclesiae et scholae Evangeliae Ratisbonensium Cantor“. Von ihm sind keine Kompositionen erhalten. Die Doppelfunktion der evangelischen Kantoren als Musiker und Gelehrte findet aber ihren Ausdruck in seinem zweibändigen Werk Die Belagerung Wiens unter dem Türkenherrscher Soliman, einer Sammlung heroischer Gesänge aus dem Jahre 1568. Da die Aufsicht über die Knaben am Gymnasium offenbar sehr zeitaufwendig war, wurde ab 1572 für diese Aufgaben ein „Inspektor“ bestellt, um den Kantor zu entlasten. Ab 1573 assistierte dem Kantor zudem Josef Zollner, ein Sohn des ersten evangelischen Predigers in Regensburg.
Nusser dürfte 1579 gestorben sein, da am 18. Juni dieses Jahres Vormünder für seine Söhne bestellt wurden und am 22. Juni 1579 Konrad Judex als Kantor belegt ist. Neben dieser Erwähnung gibt es kaum Informationen über diesen Musiker. In der Druckfassung eines von ihm stammenden Hochzeitsgedichts nennt er sich 1581 „Collega et Cantor Gymnasii Ratisbonensis“. Da keine anderen Hinweise vorliegen, wird man annehmen dürfen, daß er bis Anfang 1584 im Dienst war, als sein Nachfolger das Amt offiziell übernahm.
Der 1561 in Hahnbach bei Amberg geborene Andreas Raselius gilt zu Recht als der bedeutendste Musiker Regensburgs im 16. Jahrhundert. Der Sohn eines evangelischen Pfarrers erhielt seine erste musikalische Ausbildung bei Leonhard Pfaffreuther (s. u.) und Matthias Gastritz in Amberg, bevor er 1581–1584 an der Heidelberger Universität studierte und arbeitete. Im Mai 1584 wurde er in Regensburg Lehrer der zweiten Klasse sowie Kantor an der Schule und der Neupfarrkirche. Während seiner Amtszeit erlebte die Kirchenmusik in Regensburg einen merklichen Aufschwung. So sind im Schnitt etwa zwanzig Alumnen nachweisbar. Außerdem wurden weitere Kirchenmusiker angestellt. Für die Kirche St. Oswald sind eigene Kantoren belegt (Nicolaus Regius um 1594, Daniel Gumprecht ca. 1598–1600), und es wurden Organisten verpflichtet (Gottfried Kirchstain an St. Oswald und Tobias Wipacher an der Neufarrkirche), um den Kantor zu entlasten.
Raselius dürfte der produktivste Komponist unter seinen Regensburger Amtskollegen gewesen sein. Mit seinen Deutschen Sprüchen aus den sonntäglichen Evangeliis (1594) und Deutschen Sprüchen auf die fürnehmsten jährlichen Feste und Aposteltage (1595, s. Abb.) schuf er beispielhafte Zyklen liturgischer Musik in deutscher Sprache. Der sogenannte Regensburger Kirchenkontrapunkt stellte das erste gedruckte Regensburger Gesangbuch der evangelischen Gemeinde dar. Um die Beteiligung der Gemeinde am Kirchengesang zu fördern, wurde Raselius 1586 vom Rat der Stadt beauftragt, die Gesänge des Gottesdienstes für das Volk attraktiver zu machen. 1588 legte er dann sein fertiges Cantionale, wie er es zunächst nannte, vor. In seinen Bearbeitungen war die Melodie des Chorals dem Gemeindegesang zugewiesen, während der Chor sie mehrstimmig umrahmte und ausschmückte. Erst dieses Werk verhalf dem Gemeindegesang in Regensburg zum Durchbruch.
Raselius’ Lehrwerk Hexachordum seu Questiones Musicae, 1589 in Nürnberg gedruckt, bildete fast hundert Jahre lang die im Lehrplan verbindlich vorgeschriebene Grundlage für die musikalische Ausbildung am Gymnasium poeticum. Neben seiner Tätigkeit als Musiker verfaßte er u. a. noch eine bis 1545 reichende Chronik der Stadt Regensburg sowie 1599 eine kürzlich neu herausgegebene Stadtbeschreibung. Raselius verließ Regensburg 1600 und ging an den kurfürstlichen Hof nach Heidelberg, wo er am 6. Januar 1602 starb.
Nach Leonhard Pfaffreuther (1544–1603), der nur sehr kurz im Amt war, wurde 1603 Johann Kraut (Johannes Brassicanus), um 1570 in Murau in der Steiermark geboren, Kantor in Regensburg. Drei Jahre später wurde er zum Praezeptor des Gymnasium poeticum ernannt. Nach einer längeren Anstellung in Linz war er als „Musicus et Collega“ von 1627 bis zu seinem Tod im September 1634 wieder Angehöriger des Regensburger Gymnasiums. Von ihm stammen neben lateinischen Motetten und deutschen Kantionalsätzen für den gottesdienstlichen Gebrauch auch einige – leider verschollene – weltliche Lieder.
Paul Homberger, um 1560 auf der Durchreise seiner Eltern in Regensburg geboren, hatte vermutlich die Lateinschule in Frankfurt am Main besucht und war 1589 an der Universität Wittenberg immatrikuliert, bevor er nach Regensburg zurückkehrte, wo er 1601 als Lehrer am Gymnasium poeticum eingestellt wurde und 1603 die Nachfolge Pfaffreuthers als Kantor übernahm. Er heiratete eine Regensburger Bürgerswitwe und wurde 1606 ,befördert‘, indem ihm die vierte Klasse der Schule anvertraut wurde. Er übte das Kantorenamt bis zu seinem Tod am 19. November 1643 aus.
Wesentliche Anregungen in musikalischer Hinsicht erhielt Homberger während eines Aufenthaltes bei Giovanni Gabrieli in Venedig (wohl Anfang der 1590er Jahre). Sein kompositorisches Schaffen umfaßt alle Formen der evangelischen Kirchen- und Gebrauchsmusik seiner Zeit. Neben Raselius, dessen Kantionalbücher wohl eine gewisse Vorbildfunktion hatten, war Homberger einer der fruchtbarsten Komponisten unter den Regensburger Kantoren, zumal wenn man bedenkt, daß etwa die Hälfte seines Schaffens als verloren gilt. Unter anderem stammen von ihm Gedichte und Musiken für die Aufenthalte der Kaiser Matthias (1612) und Ferdinand II. (zum Reichstag 1630). Im Jahre 1617 übertrug man dem „Senatus populusque Ratisbonensis Cantor und College der Poetenschul daselbst“ die Verantwortung für das Programm und die Durchführung der Feierlichkeiten zum 100jährigen Reformationsjubiläum. Ihm oblag auch die musikalische Leitung bei der Grundsteinlegung (1627) und Einweihung (1631) der Dreieinigkeitskirche, wo Musik aus seiner Feder erklang. Die Grundsteinlegung ist auf einem zeitgenössischen Kupferstich dokumentiert (s. Abb.) – wohl die einzige überlieferte Bildquelle zur Kirchenmusik des ersten Reformationsjahrhunderts in Regensburg.
Literaturhinweise
– Raimund W. Sterl: Zum Kantorat und zur evangelischen Kirchenmusik Regensburgs im 16. Jahrhundert, in:
Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 38 (1969), S. 88–106.
– Ders.: 450 Jahre evangelische Kantoren, Organisten und Tonsetzer. Ihr Wirken und ihre Bedeutung für die
Musikgeschichte Regensburgs, in: 1542–1992. 450 Jahre evangelische Kirche in Regensburg. (Ausstellungskatalog
1992/93), S. 165–179.
– Ders.: Das Gymnasium poeticum, die Praeceptoren und die Alumnen. Zur Schulmusikgeschichte Regensburgs im 16. und 17.
Jahrhundert, in: Musik in Bayern 55 (1998) S. 5–33.
– Andreas Raselius: Regensburg. Ein Stadtrundgang im Jahre 1599, hrsg. v. Peter Wolf, Regensburg 1999.