Michael Wackerbauer
Arnold Schönberg mit Pierrot lunaire in Regensburg
„Soll ich es letzte Gebärungswut nennen? Oder eine mehr als krankhafte Zerstörungssucht, die alles Traditionelle bis zum letzten Strauß knicken will? Oder stehen wir vor der Revolution eines futuristischen Neutönergeistes?“ Aufgeregte Worte in den Regensburger Neuesten Nachrichten vom 6. April 1914 – was war geschehen?
Gerade zwei Tage waren verstrichen, seit ein Kammermusikensemble den klassizistischen Neuhaussaal mit höchst ungewohnten Klängen erfüllt hatte: Arnold Schönberg präsentierte zusammen mit der Schauspielerin Albertine Zehme und fünf Instrumentalisten ein Programm eigener Werke, mit dem er in den vergangenen eineinhalb Jahren europaweit für Schlagzeilen gesorgt hatte. Den ersten Teil des Abends – man kann es der nebenstehenden Konzertankündigung entnehmen – bestritt der führende zeitgenössische Schönberg-Interpret Eduard Steuermann mit den Drei Klavierstücken op. 11 (1909) und den Sechs kleinen Klavierstücken op. 19 (1911). Wer sich nach diesen extrem kurzen atonalen Werken, in denen Schönberg mit letzter Konsequenz möglichst authentischen Selbstausdruck suchte, nicht irritiert oder verärgert nach Hause aufmachte, durfte einer sensationellen Darbietung beiwohnen: Schönbergs Melodramenzyklus Pierrot lunaire op. 21 kam in der fast vollständigen Uraufführungsbesetzung zu Gehör.
Doch wer wagte es 1914, ein noch für heutige Ohren schwieriges und daher kaum verkäufliches Programm anzubieten? Das eben begangene 150jährige Jubiläum im Hinterkopf, würde man wohl instinktiv den Musikverein Regensburg nennen. Ein Blick auf die Kopfleiste der abgebildeten Vorankündigung belehrt uns jedoch eines besseren: Als Veranstalter firmiert dort der Kaufmännische Verein Regensburg. Hinter diesem Namen, der wohl kaum mehr einem Regensburger ein Begriff sein dürfte, würde man alles andere als eine kulturell hochambitionierte Vereinigung vermuten – aber genau um eine solche handelte es sich. Wenn auch über die Organisation Kaufmännischer Verein nicht viel mehr bekannt ist, als daß sie von dem Verleger und Druckereibesitzer Gustav Bosse um 1912 gegründet wurde, der ihr bis zur Auflösung Anfang der 30er Jahre vorstand, so gibt es doch eine gewichtige Quelle zu deren Tätigkeit: das wunderschön gebundene Gästebuch des Vereins, welches Gustav Bosse führte und sich noch heute im Besitz der Familie befindet. Bernhard Bosse, der den Verlag seines Onkels nach dem 2. Weltkrieg übernahm, kennt aus mündlicher Überlieferung noch die Ziele, die Gustav Bosse als Vorsitzender mit dem Verein verfolgte: Es sollten neue Strömungen und Entwicklungen in unterschiedlichen kulturellen Bereichen gefördert und der Öffentlichkeit vorgestellt werden.
Ein Blick in das Gästebuch macht die Breite von Bosses Ambitionen deutlich: Da gab es eine Reihe von Dichterlesungen, unter denen der Abend des 6. April 1920 hervorzuheben wäre, an dem Thomas Mann vor etwa 500 Zuhörern ausgewählte Kapitel aus dem Zauberberg im Neuhaussaal vortrug (s. seine Tagebuchnotiz vom 7. April 1920). Mehrere Veranstaltungen beschäftigten sich mit den neuen Bewegungen der Körperkultur, wie beispielsweise der Schule um Rudolf Bode, der seine Ideen am 4. Januar 1921 präsentieren durfte.
Der Schwerpunkt von Bosses Engagement lag aber eindeutig im Bereich der Musik. In den regelmäßig stattfindenden Kammerkonzerten und Liederabenden wurden – teils von den Komponisten selbst – vornehmlich zeitgenössische Werke vorgestellt. Unter den Einträgen im Gästebuch und in der spärlich überlieferten Korrespondenz finden sich dabei hauptsächlich Komponisten aus dem süddeutschen Raum wie Hermann Zilcher, Siegmund von Hausegger, Joseph Haas oder Hans Pfitzner. Das spektakulärste Ereignis in der Vereinsgeschichte war sicherlich besagte Aufführung des Pierrot lunaire am Samstag, den 4. April 1914, unter der Leitung von Arnold Schönberg, der sich zusammen mit seinen Mitstreitern unter dem mutmachenden Sprüchlein im Gästebuch des Vereins verewigte: „Regen Sie sich nur weiter in Regensburg; wenns nicht regnet, dann träufelts“.
Die Anregung zu dem Werk kam von der bereits oben erwähnten Albertine Zehme, einer bemerkenswerten Schauspielerin und Sängerin, die durch ihre Ehe mit einem prominenten Leipziger Advokaten einen soliden finanziellen Rückhalt hatte. So war es ihr möglich, musikalischen Projekte vorzufinanzieren und so weit nötig zu sponsern. Geplant war, Pierrot lunaire nach der Uraufführung am 16. Oktober 1912 in Berlin auf einer Tournee mit einem festen Ensemble in möglichst vielen deutschen Städten zu spielen: Albertine Zehme verpflichtete sich vertraglich, innerhalb einer ihr gewährten Schutzfrist die Komposition an mindestens dreißig Abenden zur Aufführung zu bringen, für die sie Tantiemen an Schönberg abzuführen hatte.
Der vom Konzertagenten Emil Gutman aufgestellte Tourneeplan für die Jahre 1912 und 1913 führte durch die großen deutschen und österreichischen Städte. Die zahlreich erschienenen Rezensionen (in umfangreicher Auswahl dokumentiert im unten angegebenen Kommentarband der Schönberg-Gesamtausgabe) zeichnen ein sehr buntes Bild an Kritiker- und Publikumsreaktionen. Die Uraufführung im Berliner Choralion-Saal scheint beim überwiegenden Teil der Zuhörer positiv aufgenommen worden zu sein – von vereinzelten Störern abgesehen, die Schönberg dazu veranlaßten das Konzert an einer Stelle so lange zu unterbrechen, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Die Besprechungen zeigten ein umgekehrtes Verhältnis: Vorherrschend war eine schroffe Ablehnung des Werkes: „ununterbrochene Folge wirrer, abscheulicher Mißklänge“ (O. Taubmann), „Modekrankheit des unnatürlichen musikalischen Empfindens“ (J. C. Lusztig), etc.; einige machten sich auf billige Weise lustig: „,Sagen Sie mal, gibt es denn hier keinen Ausschank? Ich möchte gern einen Magenbittern verlöten.‘ – ,Wird Ihnen schlecht?‘ fragte ich höhnisch.“ (W. D.); neben den Kritikern, die Schönberg ernst nahmen, sich aber noch nicht reif fühlten, Pierrot lunaire gerecht zu beurteilen, gab es nur wenige wirklich begeisterte. Einer von ihnen, Max Marschalk, bringt die aufgeladene Stimmung um die Uraufführung folgendermaßen auf den Punkt: „Wir haben seit einer Reihe von Jahren den Fall Arnold Schönberg, und da dieser jungwiener Messias der Tonkunst zurzeit der einzige Tonsetzer ist, der Probleme zu lösen aufgiebt, so erhitzen sich die Gemüter stärker, rücksichtsloser über ihn, als sie sich jemals über Mahler und Strauß [sic] erhitzt haben, und es kommt zu jenen Skandalen, jenen brutalen Äußerungen der Bejahung und der Verneinung, die wir als die naturnotwendigen Begleiterscheinungen der Aufführungen Schönbergscher Werke beobachten.“
Entsprechend verlief die Tournee mit den zu erwartenden Höhen und Tiefen. Nur eine Konstante durchzog einen großen Teil der Kritiken: vernichtende Urteile über die gestalterischen Fähigkeiten der Zehme. Zu einem echten Skandal, der Schönberg offensichtlich traumatisierte, kam es erst relativ spät während der Prager Aufführung am 24. Februar 1913 beim Kammermusik-Verein. Felix Adler schilderte in seinem Beitrag für die Bohemia die Vorgänge relativ sachlich. Nach massiven Störaktionen und demonstrativen Beifallsbekundungen, die Schönberg mehrmals zwangen abzubrechen, gelangte man endlich doch noch bis zur abschließenden Nummer: „Als [...] das letzte der Gedichte schon fast zu Ende gesprochen war, vernahm man den von einem Einzelnen ausgestoßenen Ruf: ,Aufhören!‘ Und nun setzte ein Sturm der kämpfenden Meinungen ein, in dem die letzten Töne der Komposition ungehört untergingen. [...] Es ertönten schrille Pfeifen, der Hausschlüssel als kritisches Instrument trat in seine unkultivierten Rechte, ,Pfui‘-Rufe versuchten die lauten Bravos zu übertönen und ununterbrochen wogte der Parteienkampf, bis das Verlöschen der Beleuchtung auch den Tumult zum Schweigen zwang. Schönberg hatte gleich nach der Beendigung der Aufführung mit heftigem mißbilligenden Kopfschütteln den Taktstock niedergelegt und war abgetreten. Jetzt erschien er, von seinen Anhängern gerufen und begrüßt, noch mehrmals auf dem Podium und konnte für den bestrittenen, aber ehrlich begeisterten Beifall lächelnd danken.“
Schönberg zog aus diesen Vorkommnissen Konsequenzen für die nächste dokumentierte Aufführung von Pierrot lunaire in Regensburg. Der Veranstalter wurde verpflichtet, die Konzertankündigung (s. Abb.) mit dem am unteren Ende angebrachten Aufdruck zu versehen: „Die durch fanatische Anhänger und Gegner seiner Kunst gelegentlich der Aufführungen des Pierrot lunaire in Wien und Prag hervorgerufenen ruhestörenden Scenen veranlassen Herrn Arnold Schönberg an seine Mitwirkung die Bedingung zu knüpfen, dass ihm absolute Ruhe während der Dauer des Musizierens garantiert wird und das Publikum darauf verzichtet, während der Pausen die Aufnahmefähigkeit zu untergraben.“
Den Regensburger Konzertgängern wurde bereits im Vorfeld der Veranstaltung ein besonderer Service zuteil: Die Regensburger Neuesten Nachrichten druckten am 2. April eine ausführliche und sehr informative Besprechung des Werkes ab, die Georg Gräner anläßlich der Uraufführung am 17. Oktober 1912 in der Berliner Wochenschrift Pan veröffentlicht hatte. Auf diese Weise gut vorbereitet und positiv konditioniert, stand einem intensiven Kunstgenuß eigentlich nichts mehr im Wege. Doch man hat sich auch in Regensburg mit Schönberg sicherlich nicht leicht getan. Der Kritiker „OS“, der die Rezension für die Regensburger Neuesten Nachrichten vom 6. April 1914 verfaßte, ging offenbar ziemlich ratlos und etwas verstört aus dem Konzert, was ihn aber nicht wie manch anderen dazu veranlaßte, einen simplen Verriß zu produzieren: „Schönberg hat schließlich ein gutes Recht darauf, ernst genommen zu werden. Es wäre arg verfehlt, ihn als einen ärmlichen Narren zu betrachten. Seine künstlerische Ehrlichkeit und sein zweifelloses Können verpflichtet, ihn fürs erste nicht alsogleich zu verdammen.“ Die Klavierwerke im ersten Teil des Programms mußte der Rezensent für sich „völlig verneinen“. Dessen ungeachtet setzte er sich intensiv mit Schönbergs Schreibart auseinander: „Für ihn ist der Ton direkter Ausdruck, Verdeutlichung, bedeutet weitmöglichste Illustrierung eines Gedankens, eines Wortes. [...] Und wie die Gedanken verschroben, krankhaft, unstet, zusammenhanglos und willkürlich erstehen, so muß die dazu erforderliche Tonsprache, die sich diesen spukhaft auftauchenden Ideen unterstellen soll, naturnotwendig eine Gestaltung ertragen, die für uns jetzt noch unfaßbar, für viele undenklich ist. [...] Schönberg haßt die Linie, die Melodie, haßt sie von Grund auf, Schönberg schafft in einem uns verschlossenen Milieu, Schönberg entfernt sich von der Gattung der literarischen Musik durchaus, er ist gewaltsamer Vernichter dessen, was uns heilig geworden: diese und ähnliche Gedanken kreuzten fieberhaft bei der Aufnahme der flunkernden, zerrissenen Tongestalten, die der bedauernswerte Interpret aus dem Flügel schlug.“
Kaum besser ging es dem Kritiker im zweiten Teil des Abends mit Pierrot lunaire: „Ich gebe zu, daß man Sekunden, vielleicht uch hie und da eine Minute lang einen gelungenen Klang- und Stimmungsreflex entdecken und auffangen kann, aber ebenso schnell wird man unmittelbar nach diesem kurzen Stadium des Einvernehmens das Unmögliche dieses Haschens und Suchens [...], das Undenkliche eines sofortigen oder allmählichen Eingeweihtwerdens in diese Überwelt einsehen und der Kontakt ist schneller verloren als er hergestellt war.“ Die Bereitschaft, sich auf Schönbergs Musik einzulassen war offensichtlich vorhanden. „Für manche gewinnt vielleicht seine entschiedene Gabe zerteilender Dialektik an Überzeugungsmacht, da man ihr auch das feurige Temperament nicht ableugnen kann. Sei dem nun, wie es wolle: Sicher ist, daß kein Moderner so brutal und rücksichtslos die Verbindung zwischen einst und jetzt verachtet und gebrochen hat. An letzter Stelle muß doch das Gefühl noch entscheiden. Man kann sich ja in Dezennien an das Unglaublichste gewöhnen, an jede Spektakelschlägerei, an jedes Geräusch. Ob eine solche Gewöhnung vorteilhaft und begehrenswert ist, ist eine zweite Frage.“
Kann man sich aber tatsächlich auf dem Weg der Gewöhnung Schönbergs Musik annähern? Auffallend ist jedenfalls, daß Schönbergs Name heute zwar in aller Munde ist, seine Musik aber äußerst selten aufgeführt wird. Im Mai 1990 gab es im Rahmen der Rathauskonzerte nochmals die Möglichkeit, das Werk in Regensburg live zu hören. Ein dreiviertel Jahrhundert nach der ersten Aufführung entwickelte sich eine allgemeine Unruhe unter den Zuhörern, von denen einige türeschlagend den Saal verließen.
Mehr Disziplin brachte offensichtlich das Publikum vom 4. April 1914 auf: „Der Besuch war befriedigend, das Mißtrauen der Hörer groß, die empfangenen Eindrücke bunt und unkontrollierbar. Ist das Experiment geglückt? Er wird vielleicht Versuche repetieren. Ob aber trotzdem das Gesamtergebnis nicht unverändert bleibt?“
Literatur:
– Reinhold Brinkmann (Hrsg.): Pierrot lunaire op. 21. Kritischer Bericht, Studien zur Genesis, Skizzen, Dokumente,
Mainz/Wien 1995 (Arnold Schönberg, Sämtliche Werke, Band 24,1).
–Nuria Nono-Schönberg (Hrsg.): Arnold Schönberg 1874–1951. Lebensgeschichte in Begegnungen,
Klagenfurt 1992.
Ich danke Herrn Bernhard Bosse für sehr informative Gespräche sowie Herrn Peter Hofmarksrichter (Kulturamt Regensburg) und Herrn Günther Handel (Stadtarchiv) für die Erschließung hilfreichen Materials.