Roman Hankeln
Zur Entstehung und Überlieferung der Erhard-Historia
„Nicht mit Schweigen darf ich jenes Wunder übergehen, das der selige Patron Erhard an mir zu wirken [mich] würdig fand, dem doch so unwürdigen, doch so niedrigen Sünder Christi. Als ich nämlich vor 15 Jahren und mehr die Wiener Schule in Österreich leitete, geschah mir durch göttliche Maßregel, daß mich nach einer schweren Kolik eine Lähmung der Glieder, d. h. der Beine und Hände befiel, so daß ich weder von einem Ort zum anderen gehen, noch mit meinen Händen einen Bissen Brots meinem Mund darreichen konnte. Und mir wurde im Traum ansichtig, wie ich in Regensburg, vor dem Grabe des heiligen Erhard im Niedermünster kniete; und indem ich aufblickte, sah ich auf einem Zettel, der an seinem mit eisernen Gittern umgebenen Grabmal befestigt war, diese beiden Verse:
Erhardus mores augmentat, res et honores Huc omni genti, pro laude sua venienti.
Erhard vermehrt Sitten, Güter und Ehren allem Volk, das zu seinem Lob hierher kommt.
Ich veranlaßte also, daß man mich in einem Kahn auf dem Donaustrom nach Regensburg brachte: Und als ich eines Tages – hingestreckt in der Form eines Kreuzes – vor dem Altar des hl. Erhard im Niedermünster, mit Unterstützung meiner Gefährten und Freunde, die feierliche Messe zelebrieren ließ, siehe: da besserte sich bald mein Körper und alle seine Glieder, als das Alleluia O gemma pastoralis lucida und die Sequentia Salve splendor firmamenti, die ich zum Lob des heiligen Patrons mit Gottes Hilfe als Kranker gemacht hatte, gesungen wurde, und ich gesundete völlig. Deshalb habe ich jetzt zur Ehre GOTTES und seines Heiligen Ruhm diese Historia gemacht und seine Lebensbeschreibung in dieses Buch übertragen.“
Die Heilung ereignete sich circa 1348 im Seitenschiff von Niedermünster. Sie brachte eine der bedeutendsten Gelehrtenpersönlichkeiten des europäischen Spätmittelalters nach Regensburg: Konrad von Megenberg (1309–1374). Konrad selbst hat diesen Bericht verfaßt. Er bildet den Schluß von Konrads Lebensbeschreibung (Vita) des hl. Erhard. Ein beeindruckendes Bild. Dicht verwoben sind hier mittelalterlicher Heiligenkult und die Rolle der Musik darin. Der gelähmte Konrad – seinerzeit hochbedeutender Lehrer und Direktor an der Wiener Stephansschule – ein Häufchen Elend auf dem kalten Steinboden von Niedermünster, ausgebreitet vor dem gotischen Altar des hl. Erhard. Da ertönen zwei Gesänge, die er selbst „als Kranker“ zum Lob Erhards gemacht hat: Das Alleluia O gemma pastoralis lucida, die Sequenz Salve splendor firmamenti.
Wundersame Heilung. Der Geheilte zeigt sich dankbar: Konrad ‚macht‘ eine ‚Historia‘ und schreibt sie zusammen mit der Lebensbeschreibung des hl. Erhard in einem Buch nieder.
Historia: Das ist die Prunkgattung mittelalterlicher Choralkomposition. Sie bildet den Stundengottesdienst (Offizium) am Festtag des gefeierten Heiligen. Der Stundengottesdienst beginnt am Vortag mit der Vesper, findet seinen Höhepunkt in den kunstvollen Gesängen der Nachtwachen (Nocturnen). Es folgen die Laudes (bei Sonnenaufgang), mehrere kleinere Gebetsstunden und am Abend eine 2. Vesper. Dazu benötigt man etwa 30 Gesänge, die, zusammen mit Lesungen aus der Lebensbeschreibung des Heiligen, um das Thema seines Lebens, seiner geistlichen Leistungen kreisen und um seinen Schutz bitten.
Konrads eigenhändige Niederschrift der Erhard-Vita und der Erhard-Historia ist irgendwann verlorengegangen. Es gab wahrscheinlich einige mehr oder weniger vollständige Abschriften davon. Es war im Jahre 1611, als sich ein Mönch der Kartause Prüll, Franziskus Jeremias Grienewaldt (1581–1626), bekannter Regensburg-Geschichtsschreiber, hinsetzte und dieses Material erneut abschrieb. Wir wissen nicht, ob Grienewaldts Vorlage Konrads Original war. Was wir wissen, ist, daß sich diese Vorlage einst in der Bibliothek des Regensburger Augustinerchorherrenstifts St. Mang in Stadtamhof befunden hat. 1633 wurde das Stift St. Mang von den Schweden zerstört, mit ihm ein Großteil der Bücher, mit ihm auch die Vorlage.
Grienewaldt war ein fleißiger und vielseitiger Mann. Anders als die meisten Historiker seiner (und auch unserer) Zeit interessierte er sich nicht nur für die Texte seiner Vorlage. Nein, er machte sich die Mühe, zog Notensysteme mit vier roten Linien und malte etwas unsichere, aber sorgfältige Quadratnoten darauf. Grienewaldts Abschrift ist etwas seltenes, denn sie bietet das gesamte Material, das man für eine ‚Historia‘ braucht, nicht nur die Lesungen, sondern eben auch alle Gesänge, die zu einem richtigen Festoffizium gehören: Antiphonen, Hymnen und die kunstvollen Responsorien. Darüber schrieb er in Latein und mit rotbrauner Tinte: Plenaroffizium mit Gesangsnoten über den heiligen Bischof und Bekenner Erhard, zu dessen Lob zusammengestellt von Magister Konrad, genannt de Montepuellarum oder von Maidenburg, einem Regensburger Kanoniker, als er an dessen [Erhards] Grab wunderbar von einer gefahrvollen Krankheit geheilt wurde. Entnommen aus einem handgeschriebenen Buche des heiligen Magnus [St. Mang] am Fuße der Regensburger Brücke ...
Grienewaldt machte die Reformation für den Niedergang seiner Stadt mitverantwortlich. Er sah seine historische Tätigkeit auch als Predigt, die das goldene Zeitalter Regensburgs im frühen Mittelalter vor Augen führen sollte. Für ihn muß die Vita Erhards die große Urvergangenheit des christlichen Regensburg heraufbeschworen haben: ‚Ja damals, als mächtige baierische Herzöge regierten und heilige Bischöfe wie Erhard wirkten ...‘
Dieser heilige Bischof Erhard verschied um das Jahr 700 in Regensburg. Dort war er – ähnlich wie der hl. Emmeram, der wohl einige Jahre vor ihm starb – als Wanderbischof am agilolfingischen Herzogshof tätig, hatte aber offensichtlich auch Beziehungen zum Herzogshaus der Etichonen im Elsaß. Erhard wurde, laut Legende, an der Nordwand des frühesten Vorgängerbaus der heutigen Niedermünsterkirche bestattet. Wenig später kam das Grab eines anderen Bischofs hinzu, das des hl. Albart. Ausgrabungen 1963 bis 68 haben ergeben, daß die beiden Nachfolgebauten an der genauen Lage und Fluchtlinie dieser Kirche festhielten. Schon für die Erbauer der Kirchen im 9. und 10. Jahrhundert müssen die beiden Gräber von besonderer Bedeutung gewesen sein: Weil sie weder verbaut, noch zerstört werden sollten, errichtete man die späteren Kirchen praktisch um sie herum. Am 8. Oktober 1052 ließ Papst Leo IX. im Regensburger Niedermünster zum östlichen der Sarkophage hinabgraben. Leo erkannte die darin enthaltenen Gebeine als die des hl. Erhard an. In Anwesenheit von Kaiser Heinrich III. sprach er Erhard offiziell heilig, nachdem man ihn in Regensburg bereits seit dem 8. Jahrhundert inoffiziell als Heiligen gefeiert hatte – etwa mit Abbildungen in den prachtvollsten Handschriften Regensburger Buchmalerei überhaupt, dem sog. Heinrich-Sakramentar und dem Uta-Evangelistar.
Erhards Heiligsprechung 1052 war einerseits eine besondere Ehrung der Reichsabtei Niedermünster. Andererseits war sie aber sicher auch durch die Herkunft Papst Leos selbst bedingt. Leo stammte aus elsässischem Adel. Schon als Bischof Bruno von Toul war er mit einigen jener Orte wohlvertraut, die als Verehrungsstätten Erhards im Elsaß gelten. Und nicht nur das: Bruno selbst hat zwei Offizien für Heilige komponiert, die mit der Erhardlegende in Verbindung stehen, das Offizium für die hl. Ottilia und für den hl. Hidulf.
Schon vor der im 14. Jahrhundert entstandenen Erhard-Historia Konrads müssen in Regensburg ältere Erhard-Offizien gesungen worden sein. Einige Reflexe davon existieren. Den Text (leider nur den Text) zweier dieser früheren Offizien kann man etwa in einem am Ende des 15. Jahrhunderts in Bamberg gedruckten Brevier für den Regensburger Dom lesen (heute in der Bischöflichen Zentralbibliothek). Hier die Antiphon zum Magnificat der 1. Vesper aus jenem Offizium, das jährlich am 8. Oktober gefeiert wurde (dem Tag der Heiligsprechung durch Papst Leo in Niedermünster):
A. Sancti Erhardi presulis / diem dicatam meritis / letis agamus mentibus / sacris astantes ossibus. /
quo eleuans de tumulo / sanctus papa nonus Leo / celi beatis debita / percepit reuerentia, / festum decernens annuum / in sancti
testimonium. / cuius patroni precibus, / parce Xpiste supplicibus, / vt quos accusat actio, / defendeat intercessio.
(Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg, AKap Ink. 1987, folio ccllxxxv verso)
A. Den Tag, der den Verdiensten des Patrons Erhard geweiht ist, begehen wir mit frohen Herzen, die, die wir vor den heiligen Reliquien stehen. Als er ihn aus dem Grabe erhoben hat, erhielt der heilige Papst Leo von dem Seligen im Himmel Vergebung der Sünden, indem er ein jährliches Fest bestimmte im Angedenken des Heiligen. Durch die Bitten dieses Heiligen erhöre, Christus, das Flehen, damit die, die ihre Taten anklagen, seine Fürsprache verteidige.
Zurück ins 14. Jahrhundert. Um 1348 kommt Konrad von Megenberg nach Regensburg. 1359 bis etwa 1362 ist er Pfarrer an der damaligen Dompfarrkirche St. Ulrich. In Regensburg sind Konrads Hauptwerke entstanden. Schriften zu Liturgik, Kirchenrecht, Staatstheorie bis hin zu naturwissenschaftlichen Themen. Bevor Konrad nach Regensburg kam, hatte er ein Gelehrtenleben in euröpäischen Dimensionen geführt. In Paris ermöglichte ihm eine Stelle als Lektor im zisterziensischen Kollegium St. Bernhard das Studium der artes liberales. Er schloß es mit dem Magistergrad ab (der damals noch etwas wert war). Von 1334 bis 1342 lehrte Konrad an der Sorbonne. Dann kam der Wechsel nach Wien, an die Stephansschule. Das Ansehen, das Konrad sich in dieser Zeit erwarb, läßt sich an verschiedenen Missionen ablesen: Im Auftrag der anglikanischen Nation der Universität Paris, bzw. der Stadt Regensburg und des Kaisers reist er mehrfach an die päpstliche Kurie nach Avignon. Bestattet wurde Konrad in der Kirche seines Heiligen Erhard, Niedermünster.
Konrad von Megenberg hat die Gesangstexte seiner Erhard-Historia zwischen 1364 bis 1374 in Regensburg gedichtet/geschrieben, etwa gleichzeitig mit seiner Erhard-Vita. Die Musik zu den Gesängen entnahm er einer Vorlage: Dem 1236 entstandenen Offizium für die hl. Elisabeth, ‚Letare Germania‘.
Die Neutextierung älterer Melodien war im Mittelalter weit verbreitet. Auch im Bereich von Historiae. Bekannt ist das Beispiel der Reimhistoria für den am 29. Dezember 1170 im Dom von Canterbury ermordeten dortigen Erzbischof Thomas Becket. Er war 1173 heiliggesprochen worden. Seine Historia wurde das Modell für zahlreiche andere Offizien, aber sogar auch für Gesänge der hl. Messe.
Konrads ‚künstlerische Leistung‘ sollte demnach fair beurteilt werden, also möglichst aus mittelalterlicher Perspektive: Eine Reihe von vorgegebenen Melodien mit neuen, kunstvollen Texten zu versehen, galt in dieser Epoche der Musikgeschichte keineswegs als Mangel. Im westlichen Kulturkreis gehört die individuelle Gestalt erst seit der Neuzeit zu den wesentlichen Merkmalen des musikalischen Kunstwerks.
Eine solche Neutextierung ist eigentlich Dichten unter erschwerten Bedingungen: Vorausgesetzt werden ein meisterhaftes Latein (bei der sinnvollen Gestaltung vorgegebener Versschemata) und gleichzeitig hohe Musikalität (beim subtilen Reagieren auf die vorgegebenen Melodieeinschnitte). Keine einfache Wochenendbeschäftigung für einen durchschnittlichen heutigen Lateinlehrer.
Außerdem hat Konrad wohl einen liturgisch-theologischen Zweck verfolgt: Elisabeth und Erhard waren im Mittelalter besonders populäre Heilige. Sie setzten sich für die Nöte des Volkes als Heiler und Helfer ein. In dieser Hinsicht sind beide eng verwandt. Indem Konrad seinen Heiligen Erhard mit der Musik der hl. Elisabeth bekleidet, erhält dieser praktisch auch ihre geistliche Bedeutung. Die Musik der Erhardhistoria erscheint somit als großes Zitat, als Verweis auf die Tugenden einer anderen Heiligen, die auch Erhard auszeichnen.
Bei einem genaueren Vergleich der Melodien aus der Elisabeth- und der Erhard-Historia läßt sich übrigens feststellen, daß durchaus gewisse Verände-rungen geschehen sind. Einige Antiphonen haben komplett neue Melodien erhalten. Einige Detailveränderungen sind noch interessanter, denn sie weisen hin auf die Wandlungen im Musikverständnis zwischen 1236 (dem Jahr der Entstehung der Elisabeth-Historia) und dem 14. Jahrhundert: Konrad versucht, mehr melodische Parallelismen zu musizieren als sie die Vorlage aufweist; auch sind seine Melodien insgesamt regelmäßiger, regelgerechter als die Vorlage.
Als Beispiel für den musikalischen Stil der Historia S. Erhardi (bzw. des Elisabethoffiziums, die Melodie wurde weitgehend unverändert übernommen) hier das neunte Responsorium der Erhard-Nocturnen O sidus ecclesiae (im Elisabethoffizium mit dem Text O lampas ecclesie). Der Gesang stellt mit seinem relativ großen Tonumfang (C-f) für die Ausführung gewisse Anforderungen. Grundton (F), Quint (c), und Oktav (f) werden immer wieder an wichtigen Punkten angespielt: Die meisten Abschnitte des Gesanges pendeln zwischen der Quint F-c (oder c-F) und der Oktav F-f hin und her. Alle Zeilen beginnen oder enden auf einem der drei Töne. Die meisten Wörter beginnen oder enden auf ihnen. Wenn ein solches Stück in einem Kirchenraum mit besonders halliger Akustik gesungen wird, klingen die drei Töne, besonders aber F, wie Bordune nach. Auffällig sind die zahlreichen Quintskalengänge (etwa Ec(clesiae), largos, radios usw.). Fast virtuos wirken die Sprungphasen (etwa jene über ministrator). Die Mehrstimmigkeit des Mittelalters, die ganz wesentlich auf Quint und Oktav aufbaut, hat in Choralgesängen wie diesem deutliche Spuren hinterlassen.
New Age-Apostel müßten eigentlich bei Konrads Bericht aufhorchen: Waren da nicht zwei geheimnisvolle Artefakte bei der Heilung im Spiel? Die beiden wundertätigen Gesänge – das Alleluia O gemma pastoralis lucida und die Sequentia Salve splendor firmamenti – galten lange Zeit als verschollen. Niemand ist auf die Idee gekommen, à la Indiana Jones nach ihnen zu suchen. So hat (leider?) erst die aufgeklärte Wissenschaft unserer Tage Alleluia und Sequentia wiederentdeckt: Grienewaldt war so freundlich, ihre Melodien am Ende seiner Abschrift mitzuteilen, in einem Abschnitt, der der Messe am Tag des hl. Erhard gewidmet ist. Im Alleluia O gemma pastoralis lucida fallen sicher die virtuosen Sprungkombinationen und Skalenführungen auf (etwa über pastoralis lucida). Solcherart Melodiegestaltung ist in den Alleluia-Melodien des 14. und 15. Jahrhunderts auf E aus süddeutsch-böhmischen Raum nichts ungewöhnliches: Wenn Konrad diesen Gesang also wirklich selbst komponiert hat, hat er sich an Melodiebaurezepte seiner Zeit gehalten.
Bei Alleluia wie Sequentia ist eigentlich damit zu rechnen, daß Konrad auf bereits bestehende Melodien (oder Melodiemodelle) zurückgegriffen, sie bloß neutextiert hat. (Konrad schreibt in seiner Erhardvita ja nicht ausdrücklich davon, daß er die Melodien erfunden habe, ein solcher musikalischer Hinweis wäre ungewöhnlich gewesen.) Beweise dafür gibt es aber derzeit nicht. So könnte es durchaus sein, daß die beiden Gesänge als authentische Kompositionen Konrads gelten können. Was die wundertätige Qualität des hier abgedruckten Alleluias betrifft, sei – je nach Tempo der Aufführung – vor Stimmbandkrampf gewarnt und generell auf Arzt oder Apotheker verwiesen.
Eine Aufnahme des Responsoriums – neben weiteren Responsorien aus Gregorianik und Mittelalterlichem Choral – hat die Choralschola Tonus Peregrinus kürzlich eingespielt. CD für DM 30,– auf Anfrage beim Autor (Kontakt über die Redaktion).