Mälzels Magazin

Zeitschrift für Musikkultur in Regensburg

Schriftzug Mälzels Magazin
Hefte2000Nr. 3
mälzels magazin, Heft 3/2000, S. 12–17
URL: http://www.maelzels-magazin.de/2000/3_05_altemusik.html

Juan Martin Koch und Alois Späth

Fülle und Leere des Wohllauts

Tage Alter und Neuer Musik 2000

Vor Redaktionsschluß ein letzter Anruf bei „Pro Musica Antiqua“: Aber noch halten sich die Organisatoren bedeckt, was die Endabrechnung angeht. Einige Wochen werde es dauern, so Paul Holzgartner, bis Klarheit darüber besteht, wie sich der drastische Besucherrückgang bei den Konzerten mit neuer Musik finanziell ausgewirkt hat. Während der traditionelle Festivalabschnitt mit rund 6.000 Zuhörern einen neuen Besucherrekord bescherte, wollten die gemischten oder komplett modernen Programme, die zwei Drittel ausmachten, nur halb so viele hören.

Die Überblendung des alten mit dem neuen verlief beim Regensburger Konzertmarathon in puncto Programmgestaltung überwiegend schlüssig und unproblematisch, gleichzeitig muß aber der Versuch als gescheitert angesehen werden, ein auf die alte Musik eingeschworenes auswärtiges Publikum auf die neue umzupolen. Und aus einer vom modernen Repertoire – von der Avantgarde ganz zu schweigen – weitgehend unbehelligten Stadt ist ein entsprechendes Besucherpotential eben auch nicht zu mobilisieren. Wenn Pogorelich kommt, füllt sich das Audimax, aber wer ist Volker Banfield? – Interpretationen von echter Weltklasse, Fülle zeitgenössischen Klavierwohllauts – in die Leere der Seifensiedergasse entlassen. Das ist als nüchternes Fazit eines womöglich allzu ehrgeizigen Gesamtprojekts zu konstatieren. Aber es gibt natürlich ein zweites Fazit auf künstlerischer Ebene, das weitgehendes Gelingen bilanzieren kann. Alois Späth war in Sachen Vokalensembles unterwegs, einem Schwerpunkt, der quer durch die Zeitachse verlief:

Angekündigt war im ersten Nachtkonzert das Offizium des Heiligen Nikolaus, und auch der begleitende Text im Programmheft war vornehmlich damit beschäftigt, dessen liturgische Ordnung zu erklären. Zu leichter Verwirrung konnte dies jedoch führen, wenn dann die Lesungen, Antiphonen und Responsorien wahrlich nicht in liturgischer Anordnung erklangen, sondern eher einem Erzählverlauf folgten, der streckenweise an das liturgische Drama denken ließ. Nicht nur deswegen, sondern auch aufgrund einiger gewagter Interpretationsansätze (etwa die Version eines Lesungstextes als „gesprochenes Organum“) rückte das Showelement gegenüber dem Ziel einer möglichst authentischen Aufführung zuweilen doch etwas zu stark in den Vordergrund. Dem glänzenden Gesamteindruck des instrumental und gesanglich gleichermaßen versierten Frauenensembles La Reverdie und der Choralschola I Cantori Gregoriani konnte dies jedoch keinen Abbruch tun.

Mit einem gewaltigen Klangexperiment der Renaissance, der zwölfstimmigen Messe „Et ecce terrae motus“ von Antoine Brumel wartete das Huelgas-Ensemble im Dom St. Peter in beeindruckender Weise auf. Bei einer quasi solistischen Besetzung stellt dieses Werk höchste Anforderungen an die zwölf Sängerinnen und Sänger. Weitgehend wurde man diesen auch gerecht, selbst wenn manches Tempo des ansonsten perfekt mit seinem Dirigat im Rhythmus des Brevis-Schlags wogenden Paul van Nevel die Sänger in stimmliche Verlegenheiten brachte und die polyphone Klangpracht im weiten Raum der Kathedrale ein wenig verschwimmen ließ.

Das Orlando Consort war dieses Jahr in zwei Konzerten zu hören: Zunächst mit einem Programm, das den Kompositionen Guillaume Dufays Werke zeitgenössischer, deswegen aber nicht immer auch „moderner“ Komponisten gegenüberstellte. Was die vier Briten in ihrer Interpretation musikalisch ausdrücken wollten, blieb – bei aller stimmlichen Perfektion aber auch einer gewissen Kälte des Ensembleklangs – manchmal nur ein Rätsel. Zu unbeteiligt wurde ausgerechnet Dufays „Nuper rosarum flores“ abgewickelt und so die Möglichkeit eines Konzerterlebnisses leichtsinnig verschenkt. Dies änderte sich auch nicht im zweiten Konzert, bei dem das Calefax Reed Quintet hinzustieß. Wer erwartet hatte, die Instrumentalisten würden sich in Perotins berühmtem Organum „Viderunt omnes“, inspiriert von den immer wieder auffunkelnden, melodisch-rhythmisch wiederholten Bausteinen, zu der ein oder anderen Improvisation oder zu einer Erweiterung des Satzes hinreißen lassen, wurde enttäuscht. Die Bläser übernahmen lediglich einzelne Passagen der Sänger oder die Vierstimmigkeit als Ganzes. Abwechselnd instrumental oder vokal erklangen außerdem Stücke der sogenannten „Ars Subtilior“, wobei von den Bläsern eine Agogik des 19. und 20. Jahrhunderts angesetzt wurde, die mit der Musizierweise des Mittelalters und der Renaissance nicht mehr viel zu tun hatte. Auf der Seite der neuen Musik konnten immerhin Werke von Christian Lauba und Hans Koolmers schöne Kontraste setzen oder auch Verbindungen herstellen, während die Werke von Arvo Pärt in umarrangierter Form und zweifelhafter Intonation sehr viel von ihrer ursprünglichen Kraft verloren.

Gleich anschließend zeigte The Clerks’ Group in der Dominikanerkirche, wie es gehen könnte: Der Klang des Vokalensembles war trotz charakteristischer Einzelstimmen auf faszinierende Weise homogen, und Edward Wickham schaffte es mit seinen Sängern, bei der alten und neuen Musik gleichermaßen den richtigen Ton zu treffen: die nüchterne Tragik in Steve Martlands „Jenny Jones“ oder die emphatische Klarheit in Messesätzen Josquins und Ockeghems – Glanzpunkte, an die man sich lange erinnern wird.

Manch einer fühlte sich bei der Gegenüberstellung von Perotins „Viderunt omnes“ und dem ersten Teil aus Steve Reichs „Drumming“ im gemeinsamen Konzert von Paul Hilliers Theatre of Voices und dem Ensemble Percussion Metal in der Schottenkirche wohl auch an die Überlegungen erinnert, die Hillier im Booklet der 1989 erschienenen Aufnahme „Perotin“ des Hilliard Ensembles zu den Zusammenhängen zwischen der Musik der Notre-Dame-Epoche und der Minimal Music des 20. Jahrhunderts anstellte. Doch war „Viderunt omnes“ wohl das einzige Werk, das dem Motto des Konzerts „Pattern music“ gerade auch im Zusammenhang mit Reichs Stück gerecht werden konnte. Die übrigen Kompositionen, allen voran Arvo Pärts lektionstonartiges und in den mehrstimmigen Passagen homophon gesetztes „And one of the Pharisees“, waren doch anderer Natur. Interpretatorisch aber konnten beide Ensembles in ihren Programmteilen nach kleineren Anlaufschwierigkeiten überzeugen, ja sie zogen gerade bei den Hauptwerken die Zuhörer in ihren Bann. Infolgedessen konnte man es den Sängern von Theatre of Voices ein Stück weit nachsehen, daß sie sich im zweiten Konzert („Old and new complexity“), das sie zusammen mit dem Arditti Quartet bestritten, in ihren aus dem Repertoire der „Ars Subtilior“ ausgewählten Stücken intonatorisch und rhythmisch nicht immer ganz auf der Höhe befanden. Ein Höhepunkt gelang den Sängern dann aber doch noch, indem sie ein sehr ausgewogenes und in der Herausarbeitung des Tenors „Terribilis est locus iste“ äußerst gelungenes „Nuper rosarum flores“ präsentierten. Der Vergleich mit der Aufführung desselben Dufay-Werks durch das Orlando Consort sprach Bände.

War bei allen bisher genannten Kombinationen von alter und neuer Musik die zeitliche Distanz schon relativ groß, so erweiterte sich der Abstand im Konzert der Schola Gregoriana Pragensis (Leitung: David Eben) und der Percussionistin Edith Salmen noch stärker. Um die in der Programmzeitung von der Musikerin selbst verfaßten einführenden Texte war wohl jeder Konzertbesucher dankbar, der an manch anderen Stellen der Zeitung lediglich mit reichhaltigen Illustrationen nebst sonderbaren Untertiteln und einigen kurzen Sätzen zum Programm abgespeist wurde. So konnte man den Werken von Morton Feldman, Karlheinz Stockhausen, Per Nørgard und Iannis Xenakis mit „erweitertem Bewußtsein“ lauschen und den hochkonzentrierten Vortrag einer ganz in die Musik versunkenen Schlagwerkerin genießen. Dabei standen die einstimmigen Gesänge des gregorianischen Repertoires und der böhmischen Tradition – von der Schola sowohl im Gesamtklang als auch mit ihren Solisten überzeugend dargeboten – den Stücken der neuen Musik nicht immer so extrem gegenüber wie man hätte erwarten können: Auch hier ergaben sich verbindende Elemente, etwa der markante Tritonussprung im Responsorium „Tenebrae factae sunt“, der als Intervall schon in den Tonräumen von Feldmans Komposition „The King of Denmark“ zu Beginn des Konzerts zu hören war.

Am letzten Tag des Festivals verlegte sich der Schwerpunkt mit dem Konzert der Neuen Vokalsolisten Stuttgart dann endgültig auf die neue Musik, und man bekam unter dem Titel „Nuovo Belcanto“ ausschließlich italienische Werke des 20. Jahrhunderts zu hören. Durch die Hereinnahme von Luciano Berios berühmter „Sequenza III für Frauenstimme“ und Luigi Nonos „La Fabbrica illuminata“, einer anklagenden und erschütternden Montage von teils verzerrten Tonbandaufzeichnungen mit einer Einzelstimme, ergab sich ein großer Anteil solistischen Repertoires. Die Sopranistin Angelika Luz gestaltete dies mit schier unglaublichen stimmlichen Fähigkeiten und bei Berio mit hoher schauspielerischer Gabe. Und in den restlichen Ensemblestücken Nonos, Sciarrinos und Busottis zeigten die Stuttgarter als Ensemble, warum sie für diese Art Repertoire prädestiniert sind. (as)

Heimvorteil oder zu hoher Erwartungsdruck: Zwischen beiden Polen präsentierten sich die Domspatzen beim Auftaktkonzert. Das Bach-Jubiläum galt es zu begehen, und die Rahmenbedingungen stimmten: Mit der Prager Musica Florea stand ein versiertes, Roland Büchners frischen Interpretationsansatz flexibel mitgestaltendes Ensemble zur Verfügung, und das Sängerquintett, allen voran Susanne Rydén und ein überragender Markus Brutscher, bot fast durchweg Erstklassiges. Der Chor selbst bekam jedoch seine von den Knaben ausgehenden intonatorischen Probleme nicht durchgehend in den Griff, und auch die Klarheit des Stimmgewebes war nur phasenweise gewährleistet, am überzeugendsten noch in der Motette „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“ und in einigen Teilen des Magnificat. Der Chor scheint sich, was die Stimmbildung der Knaben und die angestrebte Klangcharakteristik angeht, in einer Phase ziemlicher Orientierungslosigkeit zu befinden, von der man nur hoffen kann, daß sie vorübergehender Natur ist und Büchners eingeschlagenen Weg der Repertoireöffnung nicht nachhaltig gefährdet.

Weitere Monokulturen in Sachen Programmzusammenstellung boten, allerdings auf schwindelerregendem Niveau, Le Concert des Nations mit barocken Orchestersuiten und Jos van Immerseels Anima Eterna mit Mozart-Klavierkonzerten. Das katalanische Spitzenensemble spannte unter der Leitung ihres Chefs, des Gambenvirtuosen Jordi Savall, den Bogen von einem ganz auf den Wechsel von Streicher- und Bläsertexturen abzielenden Werk Lullys hin zu Bachs ebenfalls viel Trompetenglanz verbreitender vierter Suite. Hier und in Marin Marais‘ überaus kurzweiliger Auskopplung aus seiner Oper „Alcione“ entfalteten die Streicher ihren weichen, aber jederzeit klar konturierten Klang, glänzten die Holzbläser mit flexibler Artikulation ebenso wie die Trompeter mit selten erlebter Strahlkraft. Da war der Triumph mit Händels Feuerwerksmusik vorprogrammiert, und der fiel überwältigend aus.

Eine Steigerung schien kaum möglich, und doch ereignete sie sich mit dem Auftritt des Hammerflügelspezialisten Jos van Immerseel. Wenn er mit seinem Orchester Mozarts Klavierkonzerte interpretiert, ist ein gemeinsamer, kammermusikalischer Ton der Ausgangspunkt – eine völlige Verschmelzung des zerbrechlichen Pianofortetimbres mit der Wärme der Holzbläser und dem lebendig vibrierenden Streicherklang. Von hier aus faltet sich der ganze Mozartsche Kosmos aus: in ein zupackendes, sprechendes Tutti-Forte, in herrlich ausgesungene Bläsersoli, in farbig abgetönte, reaktionsschnelle Begleitstrukturen. Immerseel hat sein Orchester so glänzend präpariert, daß dieses mit schlafwandlerischer Sicherheit jede Nuance des konzertierenden Dialogs mitvollzieht und er selbst sich ganz in sein Spiel versenken kann. Dank seiner Fähigkeit, über die Grenzen des Instruments souverän hinwegzuschreiten und in Kadenzen wirklich zu improvisieren, geriet der Abend zu einem seltenen Mozart-Wunder.

Einen nicht unwillkommen Kontrapunkt der unterhaltsamen Art setzte die freche, mitunter freilich auch ins zotig-läppische abdriftende Show der Truppe Bottom’s Dream, die aus frühbarocken Dialogen und Kantaten eine Apotheose moderner Anmache im Stil der Mozart-Aktualisierungen Peter Sellars’ zusammengebastelt hatte. Der diesmal stickig-überfüllte Leere Beutel war eigens zu einer italienischen Cafébar der 90er Jahre umdekoriert worden; für makellose Textverständlichkeit sorgten die zur Szenerie passenden Fernseher, die ausnahmsweise kein Fußballspiel, sondern Übersetzungen der Gesangstexte übertrugen. Vor allem im Vokalen wäre das Ganze durchaus noch steigerungsfähig gewesen, wahrscheinlich machte aber gerade das lässig Hingeworfene den Reiz dieser Produktion aus.

Begegnungen alter und neuer Musik sollten dem Konzept der Festivalmacher zufolge den roten Faden für die unter der Woche stattfindenden Programme bilden. Daß dabei nicht alles wirklich zusammen paßte oder erhellend wirkte, nahm man angesichts der fast durchweg hohen Qualität der Darbietungen in Kauf. Dazu zählten die doch arg zusammengewürfelten Präludien und Fugen von Couperin oder Bach bis Hindemith oder Ustwolskaja, deren Bewältigung sich Mark Kroll an diversen historischen Tasteninstrumenten und der fürs Konzept mitverantwortliche Siegfried Mauser am Flügel mit beachtlichem Erfolg teilten.

Als sehr stimmig erwies sich dagegen die Gegenüberstellung der sprechenden Schlichtheit von Bachs Deklamationskunst im Schemelli-Liederbuch mit Wilhelm Killmayers Hölderlin-Zyklus. Christoph Prégardien gelang mit Mauser als Begleiter und in Anwesenheit des Komponisten ein verstörender Einblick in den mal vernebelte, mal eisige Klarheit verströmenden Kosmos von Hölderlins Spätwerk, dem Killmayer mit subtil verfremdeter Tonalität ein einfühlsames Pendant zur Seite stellt.

In den Stücken selbst fand die Kombination von Alt und Neu im Fall des Ensembles Recherche statt. Allesamt beziehen sie sich – so lautete der Kompositionsauftrag, aus dem das „In Nomine Witten Broken Consort Book“ erwachsen ist – in irgendeiner Form auf die von John Taverner inaugurierte Tradition der „In Nomine“-Bearbeitungen. Aus dem Umspielen der als Cantus firmus zitierten Antiphon-Melodie „Gloria tibi trinitas“ ist vierhundert Jahre später freilich etwas völlig Neues geworden. Nur selten kommt das Original so ohrenfällig zum Vorschein wie am Beginn von Georg Krölls „Versetto“ oder wird auf eine bestimmte Komposition Bezug genommen wie in Bryn Harrisons „In nomine nach William Byrd“. Häufiger ist es nur ein Aspekt, der auf die Tradition verweist: lange, variierend umspielte Notenwerte bei Cornelius Schwehr, die Orientierung an einem von Tuttischlägen immer wieder fokussierten Zentralton bei Jörg Birkenkötter, oder ein Intervall, wie im brillant den Klangraum absteckenden „Introitus“ Hans Zenders. Das Ensemble Recherche bewältigte diese und die vielen weiteren unterschiedlich besetzten Miniaturen nicht nur, es brillierte in ihnen. Das Aufeinanderhören, die Sensibilität für entlegenste Klangerzeugung, der Mut zur Grenzüberschreitung machten diesen Abend auch zu einer Lehrstunde modernen Musizierens: So abwechslungsreich und unterhaltsam kann zeitgenössische Musik sein.

Dies galt vielfach auch für andere Spielarten der als sperrig und verkopft verschrieenen Musik der jüngsten Vergangenheit: So macht es durchaus Spaß, Volker Banfield zuzusehen, wie er die immensen Hürden, die György Ligeti mit seinen Etüden vor einer Handvoll auserwählter Tastenathleten aufgebaut hat, mit ostentativer Gelassenheit nimmt. Vom Hörerlebnis ganz zu schweigen, das hier ebenso überwältigt wie in den Teilen aus Olivier Messiaens spirituell glühenden „Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus“, die Banfield bis in die letzten Winkel des Klavierklangs ausleuchtet. „Existentielle Klänge“ – vom Arditti Quartet in Vollendung dem Instrumentarium abgetrotzt – ein Vergnügen? Durchaus, wenn sie von einem John Cage stammen, der das Ringen der Rihms, Lachenmanns und Scelsis nach Unerhörtem und die ausgetüftelten Struktur-Erkundungen Boulez‘ und Ferneyhoughs am Ende mit einem weisen Lächeln und wörtlich verstandenem Stimmtausch bilanziert. Oder der Anblick von Pierre Charials Drehorgel, wie sie Michael Riesslers virtuos ausgestanzte Erinnerungsorgie à la Georges Perec lochstreifenweise in sich hineinfrißt und in Form scharf angeblasenen Klanggewölks wieder ausspuckt. Spätestens wenn Riessler selbst bisweilen allzu berechnend die Register seines Saxophonspiels zieht, bekommt das Ganze aber auch den Anstrich eines um die Aufnahme seines Randzonen-Jazz in den Olymp der Avantgarde bemühten Hansdampfs in allen Festivalgassen. Dazu Elise Carons charmant gehauchte Wortfetzen und Jean-Louis Matiniers stupende Musette-Verfremdungen – zugegeben, Riessler weiß schon sehr genau, was er da macht.

Nur allzu gut weiß das auch Hans Werner Henze. Ein Requiem ohne Gesang – das muß ihm erst mal einer nachmachen. Dann noch der Rekurs auf die Tradition des Geistlichen Konzerts und das Aufbegehren gegen die Kriegsgreuel der jüngsten Vergangenheit samt Badenweiler Marsch. Wem das nicht reicht, der bekommt noch ein verkapptes Klavier- und ein veritables Trompetenkonzert als Dreingabe. Die bewunderungswürdige Interpretation durch das Klangforum Wien unter Stefan Asbury zeigte die Stärken von Henzes Vision einer atheistischen Kirchenmusik ebenso auf wie sie manche Schwäche bloßlegte. Fragile Innigkeit läuft im Gewand ätherischer Streicherkantilenen bisweilen Gefahr, ins Geschmäcklerische umzukippen, Martialisches ist bei aller Raffinesse der Instrumentierung im Wiederholungsfall der Abnutzung ausgesetzt. Die imaginäre Dramatik, die der Opernkomponist par excellence einmal mehr ansteuert, scheint sich seinem sonst untrüglichen Zugriff partiell zu entziehen. Henzes Botschaft an die Welt verhallt in einer halb leeren Regensburger Kirche – ein weiteres hoffentlich nicht allzu symbolträchtiges Tableau dieser an Eindrücken und Erfahrungen so substanzreichen Tage. (jmk)

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