Mälzels Magazin

Zeitschrift für Musikkultur in Regensburg

Schriftzug Mälzels Magazin
Hefte2000Nr. 3
mälzels magazin, Heft 3/2000, S. 18–19
URL: http://www.maelzels-magazin.de/2000/3_06_thiel.html

Andrea Prölß

Carl-Thiel-Straße

Regensburger Musikgeschichte in Straßennamen

Wie Peter Griesbacher, mit dem diese Reihe im letzten Heft eröffnet wurde, so war auch Carl Thiel auf das engste mit der Kirchenmusik verbunden. Und so wie sich die beiden Straßen in Regensburg auf dem Galgenberg kreuzen, so kreuzten sich in der Regensburger Kirchenmusikschule auch die Lebensläufe dieser beiden Musiker. Denn als Carl Thiel 1930 die Leitung des Instituts übernahm, löste er den Kirchenmusiker Peter Griesbacher ab, dem die Direktion zwischenzeitlich kommissarisch übertragen worden war.

Carl Thiel wurde am 9. Juli 1862 in einem kleinen Dorf nahe Breslau geboren. Obwohl er in eher ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, wurde ihm und seinem Bruder die Ausbildung zum Volksschullehrer ermöglicht. Erst spät, nach fast fünfjähriger Lehramtstätigkeit, faßte Thiel den Entschluß, den Lehrerberuf zugunsten der Musik aufzugeben. So ging er 1887 im Alter von 25 Jahren nach Berlin, um am Königlichen Institut für Kirchenmusik sein „Zweitstudium“ aufzunehmen. Im Anschluß daran wurde Thiel 1891 zum „etatmäßigen Hilfslehrer“ am Institut ernannt. Thiels musikalische Einstellung erschließt sich aus einem von ihm in jener Zeit gehaltenen Vortrag Über Kirchenmusik: „Der Mittelpunkt der gottesdienstlichen Musik ist der gregorianische Choral. Er vermag sich mehr als jede andere Musikgattung dem liturgischen Rahmen anzupassen.“ Neben dem einstimmigen Choral, so Thiel, eigneten sich desweiteren die auf seinem Fundament geschaffenen, polyphonen Kompositionen des 16. Jahrhunderts, aber auch neuere Kompositionen, insofern sie den kirchlich-künstlerischen Anspruch wahrten. In diesem Programm ist bereits alles enthalten, was Carl Thiel gut 40 Jahre später in Regensburg verwirklichen sollte.

Zuvor trat jedoch im Jahre 1907 der Musikwissenschaftler Hermann Kretzschmar, der auch im Pädagogischen entscheidende Impulse setzte, als neuer Leiter des Kgl. Instituts in Thiels Leben. Kretzschmar fand in Thiel einen eifrigen, aber auch kompetenten Mitarbeiter für seine Erneuerungsbestrebungen. Nach nur zweijähriger Zusammenarbeit wurde Thiel 1909 offizieller Vertreter Kretzschmars und übernahm nach dessen Erkrankung im Jahre 1922 die Leitung des Instituts.

Nach fast achtjähriger Tätigkeit in dieser Position befand sich Thiel auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn; aus dem ehemaligen „Hilfslehrer“ wurde einer der namhaftesten Musikpädagogen im deutschen Musikleben des frühen 20. Jahrhunderts. Genau zu dieser Zeit, Ende 1929, verlor die Regensburger Kirchenmusikschule durch den Tod von Carl Weinberger ihren Direktor. Bischof Michael Buchberger erkannte in dem inzwischen 67jährigen den rechten Mann, dem er die Leitung des kirchlichen Instituts anvertrauen könnte. Trotz seines hohen Alters wagte Thiel 1930 einen Neuanfang und setzte in Regensburg mit der Reformierung der Kirchenmusikschule sein in Berlin begonnenes Lebenswerk fort.

Seine erste und wichtigste Aufgabe sah Thiel darin, der Kirchenmusikschule durch eine grundlegende Umgestaltung des Lehrplanes, die Erhöhung der Studiendauer und die Verschärfung der Aufnahme- und Abschlußprüfungen die staatliche Anerkennung zu verschaffen. Ein weiterer Schritt war die Vereinigung der Kirchenmusikschule mit dem Domchor. In einer 1930 von Thiel verfaßten Zeitungsnotiz heißt es: „Die Kirchenmusikschule wird vom Oktober dieses Jahres an ihre Arbeit erweitern. [...] Die Eleven haben freien Zutritt zu den Proben und Aufführungen des Domchores, der von seinem jetzigen Leiter (Dr. Theobald Schrems) neu organisiert und bedeutend erweitert worden ist. [...] Besonders befähigten Eleven ist die Möglichkeit geboten, den Domchor beim Gottesdienst zu leiten.“ Die Verbindung mit dem Dienst im Domchor verschaffte den Studierenden an Ort und Stelle einen umfassenden Einblick in die kirchenmusikalische Praxis. Die alten Meister der klassischen Vokalpolyphonie, allen voran Palestrina, aber auch „Neutöner“ wie Griesbacher und Renner bildeten das Repertoire für diese gemeinsame Chorarbeit.

Thiels besondere Aufmerksamkeit galt der Pflege und Förderung des gregorianischen Chorals. Sein Plan, in Regensburg eine entsprechende Schule zu errichten, ließ sich jedoch nicht verwirklichen. Dafür gelang es ihm, ausgewiesene Fachleute der damaligen Choralforschung nach Regensburg zu holen, um den Studierenden die Teilnahme an Choralkursen zu ermöglichen. Als Anerkennung für seine Bemühungen wurde Thiel 1934 von Papst Pius XI. zum „Ritter des Gregorius-Ordens“ ernannt. Dabei beschränkte sich sein unermüdlicher Einsatz jedoch keineswegs auf das Gebiet der Kirchenmusik. „Die Regensburger Kirchenmusikschule wurde“– so schreibt Johannes Maier, der damalige Bibliothekar der Schule – „in das kulturelle Leben der Stadt tatkräftigst eingegliedert.“ Regelmäßig stattfindende „musikalische Feierstunden“, eine Art „öffentliche Vorspielabende“, gestaltet von Schülern der Kirchenmusikschule, außerplanmäßige Veranstaltungen, wie etwa Konzerte zum Gedächtnis Max Regers (1933) oder Anton Bruckners (1934) und Gastvorträge namhafter Musikwissenschaftler, belegen Thiels großes außerkirchliches Engagement.

Auf Grund seiner umfangreichen Lehr- und Verwaltungstätigkeit beschränkt sich Thiels kompositorischer Nachlaß auf nur wenige, überwiegend geistliche Vokalwerke, die jedoch bis zum heutigen Tage ihren festen Platz im Repertoire vieler Kirchenchöre behalten haben. Am 23. Juli 1939 starb Carl Thiel plötzlich und unerwartet während eines Kuraufenthaltes in Wildungen. Er wurde in Berlin begraben, wo seine Karriere als Pädagoge und Reformer der Kirchen- und Schulmusik begann.

Literatur:
– Clemens August Preising: Carl Thiel. Ein Leben für die Musikkultur des deutschen Volkes, Regensburg 1951.
– Franz Fleckenstein (Hrsg.): Gloria Deo Pax Hominibus. Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Kirchenmusikschule Regensburg (Schriftenreihe des Allgemeinen Cäcilien-Verbandes, Bd. 9), Bonn 1974.
– Raymond Dittrich (Hrsg.): 125 Jahre Kirchenmusikschule in Regensburg. Vom Kornmarkt zur Reichsstraße, Regensburg 1999.

© mälzels magazin 1998–2005
Alle Rechte vorbehalten.
© mälzels magazin 1998–2005