Mälzels Magazin

Zeitschrift für Musikkultur in Regensburg

Schriftzug Mälzels Magazin
Hefte2001Nr. 2
mälzels magazin, Heft 2/2001, S. 4–8
URL: http://www.maelzels-magazin.de/2001/2_03_lasso.html

Franz Körndle

Herodes und der Antichrist auf der Kollegienbühne

Orlando di Lasso in Regensburg und das Theater der Jesuiten

Die Musikgeschichte Regensburgs ist nicht eben arm an interessanten Namen und Fakten. Weshalb allerdings ein bekanntes Café in der Altstadt behauptet, Orlando di Lasso habe in der Stadt der Reichstage einige Jahre seines Lebens zugebracht, bleibt unerfindlich. Lasso ließ sich im Herbst 1556 mit Hauptwohnsitz in München nieder. Bis zu seinem Tod blieb er dann den Bayerischen Herzögen Albrecht V. (Regierungszeit 1550–1579) und Wilhelm V. (1579–1597) treu und lehnte sogar durchaus lukrative Angebote des französischen Königs und auch des sächsischen Kurfürsten ab.

Aber auch wenn Lasso nicht mehrere Jahre in Regensburg gewirkt hat, es führten ihn schon die ersten Amtspflichten im Dienst Herzog Albrechts im Januar 1557 zum Reichstag nach Regensburg, wo er sicher etliche Tage, wenn nicht gar Wochen geblieben ist. Am 17. Januar fand dort die Hochzeit der bayerischen Prinzessin Mechthild (Herzog Albrechts Schwester) mit dem badischen Markgrafen Philibert statt, anläßlich deren Lasso sehr wahrscheinlich die Motette Cernere virtutes komponiert hat. Immerhin nennt der Motettentext die beiden Ehegatten „Philibertus, Mechthildisque simul, quos modo junxit hymen“.

Im Jahr 1567 weilte Herzog Albrecht erneut auf einem Reichstag zu Regensburg und in seiner Begleitung wahrscheinlich sein Kapellmeister Lasso, auch wenn sich Dokumente dafür nicht nachweisen lassen. Am 2. Januar 1576 widmete Lasso Abt Ambrosius Mayrhofer von St. Emmeram den fünften Band seines Patrocinium musices [...] Magnificat aliquot, quatuor, quinque, sex, & octo vocum. (München, Adam Berg). Zum Reichstag, der im Juni begann, scheint weder der Herzog noch sein Kapellmeister erschienen zu sein; Albrecht ließ sich – wohl aus gesundheitlichen Gründen – von seinem Sohn Wilhelm vertreten. Nach dem Tod Albrechts V. hob der neue Herzog Wilhelm V. ein Verbot auf, mit dem Lasso gehindert worden war, etliche seiner Kompositionen gedruckt zu publizieren. 1584 schließlich konnten die damals schon legendären Bußpsalmen bei Adam Berg in München veröffentlicht werden; als Widmungsträger hatte Lasso den neuen Regensburger Bischof Philipp Wilhelm ausgesucht, einen Sohn des Herzogs, damals gerade acht Jahre alt. Zum Reichstag 1594 in Regensburg konnte Lasso nicht mehr mitreisen; am 14. Juni dieses Jahres starb er in München.

Neben diesen offiziellen Kontakten, die Orlando di Lasso mit Regensburg verbanden, muß hier noch eine andere Gelegenheit erwähnt werden, bei der seine Musik möglicherweise aufgeführt wurde. Es handelt sich um Kompositionen für das Theater der Jesuiten. 1586 war es Herzog Wilhelm V. gelungen, gegen den Widerstand des Regensburger Rates Jesuiten in die Reichsstadt zu holen. 1589 richtete man in dem ehemaligen Frauenkloster St. Paul das neue Kolleg ein (zwischen dem heutigen Jesuitenplatz und St.-Petersweg). Nach mehreren Um- und Erweiterungsbauten im 17. und 18. Jahrhundert brannten die Gebäude bei der Beschießung der Stadt durch die Franzosen im April 1809 nach einem Treffer vollständig aus. Heute befindet sich ein Parkhaus an ihrer Stelle.

Wie an ihren anderen Wirkungsstätten, entfalteten die Patres der Societas Jesu auch in Regensburg ein reiches kulturelles Engagement. Dazu gehörten auch die regelmäßigen Theateraufführungen in der Fastnachtszeit und zum Abschluß des Schuljahres. Her­ausragend waren selbstverständlich die Darbietungen, die bei besonderen Anlässen stattfanden, erstmals belegt für den 13. Oktober 1592 mit Jacob Gretsers De conversione S. Pauli, damals sicher mit dem durchaus programmatisch gedachten Hintergrund, daß das mit gegenreformatorischen Absichten gegründete Kolleg dem Hl. Paul geweiht war. Zum Reichstag 1597 hatte man sich anläßlich der Erhebung von Bischof Philipp zum Kardinal ein Drama ausgewählt, das am 24. Februar (Montag nach dem Aschermittwoch) gegeben wurde. In seiner Geschichte der Oberdeutschen Jesuitenprovinz berichtet Ignatius Agricola, daß dieses Drama mit einer Klage der in [4/5] Trauerkleidern auftretenden Ecclesia über die kritische Situation der damaligen Zeit begann. Obwohl bei Agricola kein Titel für das Stück angegeben ist, konnte Fidel Rädle mit guten Argumenten nahelegen, daß es sich um ein Spiel vom jüngsten Gericht handeln muß, genauer um den Christus Iudex des italienischen Jesuiten Stefano Tucci, der seit seiner erstmaligen Darbietung 1569 in Messina mit größtem Erfolg auf den europäischen Jesuitenbühnen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts gegeben wurde.

Handschriftlich ist es noch in vier Quellen überliefert (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 24674, S. 25–119, 17. Jh. sowie Clm 197572, fol. 93r–129r, 16.–17. Jh.; Dillingen, Studienbibliothek, Cod. XV, 219, S. 1077–1135, 16. Jh.; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vind. 13918, fol. 69–79, 16. Jh., aber mit Texten aus dem 17. und 18. Jahrhunderts zusammengebunden). Die beiden Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München enthalten das Drama allerdings in einer Bearbeitung, die von dem in Dillingen und Augsburg wirkenden Wolfgang Starck (1554–1605) offenbar in den 1590er Jahren gefertigt worden ist. Dabei sind mit Ausnahme der Chöre alle Verse aus den ursprünglichen Hexametern in jambische Senare umgesetzt worden. Der Beginn von Tuccis Drama behandelt das Wirken des Antichrists in der Welt. Dem sind in dieser Fassung die Personen von Papst und Kaiser einleitend hinzugefügt: sie beklagen gemeinsam mit der Ecclesia den elenden Zustand der Welt. Da diese Szene präzise zu der erwähnten Beschreibung Agricolas paßt, dürfte 1597 in Regensburg mit großer Wahrscheinlichkeit Tuccis Christus Iudex in der Neufassung Starcks gespielt worden sein.

Die Beobachtung Rädles, die Chöre seien von der Umdichtung ausgenommen gewesen, bringt nun die Musik ins Spiel, die es zu Tuccis Drama gegeben hat. Für die Aufführungen des Christus Iudex, die am 14. Mai und am 8. August des Jahres 1589 über die Bühne des Grazer Kollegs gingen, hatte kein Geringerer als der Münchner Hofkapellmeister Orlando di Lasso die Chöre als Motetten vertont. Da die Söhne Lassos diese Motetten 1604 in die posthume Gesamtausgabe (Magnum opus musicum) aufnahmen, sind sie glücklicherweise erhalten geblieben. Es handelt sich um die Motetten Flemus extremos hominum labores (Chorus Prophetarum), Heu quis armorum furor in tyranno est? (Sibyllarum chorus), Ad te perenne gaudium (Elias, Enoch und Johannes: Hymnus ascendentium in coelum), Tragico tecti (Chorus Angelorum), Heu quos dabimus miseranda cohors (Chorus nocentum) und Tibi progenies unica patris (Chorus beatorum).

Daß bei der für Regensburg 1597 vorgenommenen Bearbeitung die gesamten Chöre von einer Neuversifizierung ausgenommen geblieben sind, kann eigentlich nur einen Grund haben: Man wollte sich der vorhandenen Musik Lassos bedienen. Dazu paßt auch die dramatisch vorgesehene Abteilung des letzten Chores Tibi progenies in eine „prima stropha“ und die „reliquas strophas“, die nur in der bearbeiteten Fassung aus den Münchner Handschriften Clm 197572 und 24674 erscheint und genau mit den Teilen von Lassos Motette übereinstimmt. Wenige Monate später, am 7. und 11. Juli 1597 erklang die Komposition vermutlich erneut, im Triumphus Divi Michaelis – nun als Chorus sanctorum – zur Einweihung der Münchner Michaelskirche.

Knapp ein Jahr nach der denkwürdigen Aufführung des Dramas vom jüngsten Gericht spielte die Regensburger Jesuitenbühne erneut ein größeres Theaterstück mit Musik. Am 2. Februar 1598 (Rosenmontag) wurde der Herodes defunctus, der Tod des Herodes aufgeführt. Das originale Manuskript des Textes ist der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien unter der Signatur Cod. Vind. 13231 erhalten geblieben. Es umfaßt 92 Textseiten, im Anhang finden sich acht Seiten mit der Musik zu den Chören. Auf Seite 1 belegt eine Inschrift Datum und Anlaß für die Präsentation: [5/6]

„SA. Caesae. Mtis Rudolphi II Dnj nostrj clementissimi fratrj et ad Imperij comitia universalia legato Maximo dignissimo Principj Serenissimo ac Domino D[omi]no Matthiae Archiducj Austriae, Ducj Burgundiae, Stiriae, Carinthiae et Carnioliae Comiti Habspurgj et Tyrolis etc. [...] Domino item Clementissimo Hanc de infelicis Herodis tyranni interitu Tragoediam Humillimae observantiae ergo Societatis Ratisponae Gymnasium offert dicatque Anno Salutis M DXCVIII. 3. Non. Febr.“

Anläßlich des (bereits 1597 begonnenen) Reichstages war der Bruder Kaiser Rudolfs II. nach Regensburg gekommen. Über den Hintergrund für die Wahl des Herodesstoffes kann indessen nur spekuliert werden. Möglicherweise sollte der Untergang des Kindermörders Herodes als Sinnbild für den Tod eines anderen Tyrannen aufgefaßt werden, der als Bedrohung für die Christenheit anzusehen war. Die Türkengefahr war regelmäßig Gegenstand der Diskussion auf den Reichstagen. Da schon im Drama über Gottfried von Bouillon, das in München 1596 aufgeführt wurde, die Bedrohung durch die Türken thematisiert ist, könnte dies auch für den Herodes defunctus gelten. Am ehesten kommt als gemeinte Herrscherfigur der türkische Sultan und Kalif Murad III. in Frage. Seit 1593 bedrohte er (und dann sein Nachfolger Mehmed III.) die habsburgischen Erblande mit Krieg. Murad III. war bereits am 16. Januar 1595 verstorben, doch wird die Nachricht erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand im Reich eingetroffen sein, und eine Bestätigung dafür war sicher nicht einfach und schnell zu erlangen. Auch mußte ein solches Drama erst verfaßt und die Musik dazu komponiert werden. Selbst wenn Murads Tod schon lange bekannt gewesen sein dürfte, Anlaß für eine theatralische Freudenfeier über sein Ableben konnte es noch lange geben. Der möglicherweise auf der Bühne zum Ausdruck gebrachte Wunsch auf ein Ende der Türkengefahr wurde freilich nicht eingelöst, jedenfalls nicht sogleich. Erst unter dem Nachfolger Mehmeds III., Ahmed I. kam es 1606 in einer Art Pattsituation zur (vorübergehenden) Einstellung der Kriege. In vielen Fällen ist die Musik zu den Chören der Jesuitendramen jener frühen Zeit verloren [6/7] gegangen, zeitweise hatte die Forschung sogar geglaubt, es sei so gut wie überhaupt nichts erhalten geblieben. Doch in einigen Handschriften der Studienbibliothek Dillingen, der Hessischen Landesbibliothek in Fulda und der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien finden sich die Noten zu den Chören direkt bei den Dramen selbst. Meist stehen sie direkt im Anschluß an den Text der vorzutragenden Dichtungen, gelegentlich aber auch separat im Anhang des Manuskriptes. Dies ist auch der Fall bei dem Regensburger Herodes defunctus in der Wiener Quelle, wo die Musik in einem im hinteren Buchdeckel eingelegten Heftchen auf acht Seiten notiert ist (fol. 48v–52r). Da solche nicht fest eingebundenen Blätter im Laufe der Zeit sehr leicht abhanden kommen können, ist bei ähnlich angelegten Dramenhandschriften mit unwiederbringlichen Verlusten zu rechnen.

Die Chöre des Regensburger Herodes defunctus gehören zum ersten, zweiten, vierten und fünften Akt. Die vier Stimmen sind in der Art von Chorbüchern aufgezeichnet. Dabei werden auf den zwei gegenüberliegenden Seiten des aufgeschlagenen Heftes links und rechts je zwei Stimmen erkennbar. Die Anordnung variiert jedoch je nach Art der vorhandenen Stimmlagen. Drei der Chöre sind – wie sehr oft in den Dramen – für drei Knaben und eine Männerstimme disponiert, links Cantus 1 und 2, rechts Cantus 3 und Altus. Der Chor des vierten Aktes sieht eine „normale“ vierstimmige Chorbesetzung vor, links Cantus und Tenor, rechts Altus und Baß. Die insgesamt recht einfachen Sätze ähneln in ihrer Machart durchaus den Chören aus den Dramen Jacob Gretsers in den Dillinger Handschriften. Auffallenderweise ist keiner auf sapphische Gedichte geschrieben, die sonst als häufigste strophische Form in den Chören auftreten. Zwei Chöre bedienen sich immerhin der ebenfalls recht beliebten Hymnenstrophe, mit genau auf den Sprachrhythmus eingerichteter Musik. Im letzten Chor wird dabei die letzte Zeile wiederholt und ein Refrain angehängt. Bei dem in der Überschrift mit „Pro Daduchodia in 4 actu“ betitelten Chor des vierten Aktes handelt es sich um die Gestaltung eines Fackelzugs, zu dem der – vermutlich schreitende – Chor die ernsthaften Verse „Quanta mundi dignitas – Tanta rerum vanitas“ (Wie groß die Pracht der Welt sein mag, so groß ist auch [7/8] ihre Nichtigkeit) zu singen hatte. Solche rhythmischen und endgereimten Lieder treten nach Fidel Rädle in den Dramen vor allem bei feierlichen, dem christlichen Gottesdienst nachempfundenen Handlungen auf, hier also etwa einer Prozession. Das Münchner Drama de Godefrido Bullonio von 1596, das sich ebenfalls gegen die Türkengefahr richtete, enthält vielleicht nicht zufällig einen ganz vergleichbaren Chor als „Naenia“ mit dem Text „Omne genus hominum – Sentit mortis spiculum“. Dazu heißt es in einer der beiden überliefernden Handschriften (Clm 197572) „Incipit Intrumentista. Liecht Tantz cum aqua“, womit ein pantomimisch gestaltetes Licht- und Wasserspiel angedeutet war.

Verglichen mit den motettischen Chören eines Orlando di Lasso erweisen sich die musikalischen Einlagen zum Regensburger Herodes defunctus als relativ schlicht (Lassos Motetten zu Tuccis Christus Iudex sind immerhin für fünf, sechs und sieben Stimmen gesetzt), sind aber nicht von geringer Qualität oder gar satztechnisch fehlerhaft. Ihr Verfasser war in jedem Fall ein geübter Musiker, möglicherweise aus dem Umkreis des Kollegs selbst. Sie stellen nicht nur ein wichtiges Dokument in der Regensburger Musikgeschichte dar, sondern zählen im Moment zu den raren Beispielen von Musik im frühen Jesuitentheater insgesamt.


Literatur:
• Horst Leuchtmann: Orlando di Lasso: Sein Leben, Wiesbaden 1976
• Philip Weller: Lasso, Man of the Theatre, in: Orlandus Lassus and his Time: Colloquium Proceedings Antwerpen 24.–26.08.1994, hrsg. v. I. Bossuyt, E. Schreurs u. A. Wouters, Peer 1995, S. 89–127
• Christian H. Kleinstäuber: Ausführliche Geschichte der Studienanstalten in Regensburg. 1538–1880, Regensburg 1881–1882, in: Verhandlungen des historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 53 (1901), S. 1–134
• Fidel Rädle: Über mittelalterliche lyrische Formen im neulateinische Drama, in: Litterae Medii Aevi, Festschrift für Johanne Autenrieth zu ihrem 65. Geburtstag, hrsg. v. M. Borgolte u. H. Spilling, Sigmaringen 1988, S. 339–362
• Fidel Rädle: Italienische Jesuitendramen auf bayerischen Bühnen des 16. Jahrhunderts, in: Acta Conventus Neo-Latini Bononiensis: Proceedings of the Fourth Intern. Congress of Neo-Latin Studies, Bologna 1979, hrsg. von R. J. Schoeck, Binghamton, New York 1985, S. 303–312
• Jean-Marie Valentin: Le théâtre des jésuites dans les pays de langue allemande. Répertoire chronologique des pièces représentées et des documents conservés (1555–1773), 2 Bde., Stuttgart 1983–1984
• Franz Körndle: „Ad te perenne gaudium“. Lassos Musik zum „Vltimum Judicium“, in: Die Musikforschung 53 (2000), S. 68–70
• Franz Körndle: Apocalipsis cum figuris. Orlando di Lasso und das Theater der Jesuiten, in: Einsichten 2000/1, S. 48–50
Triumphus divi Michaelis. Triumph des heiligen Michael, Einleitung, Übersetzung und Text, Kommentar, hrsg. von B. Bauer und J. Leonhardt, Regensburg 2000

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