Michael Wackerbauer
Eberhard Kraus zum 70. Geburtstag
Musik bis unters Dach – so ließe sich am treffendsten ein Haus am Eingang der Karthauser Straße in Kumpfmühl beschreiben, ein Haus, das nun seit fast sieben Jahrzehnten Heimat einer Regensburger Musikerfamilie ist. Bereits im Flur empfängt den Besucher eine Bücherhöhle, deren Wände von der abendländischen Musik erzählen und in eine Art Wohnzimmer geleiten. Die übliche Couchgarnitur ist dort in die Ecke gerückt, um Tasteninstrumenten verschiedener Art Platz zu machen: Einem alten Blüthner ist ein großes Cembalo beigesellt, Rücken an Rücken zu einer trutzig wirkenden Truhenorgel. Eher dekorativ ist ein schmuckes Harmonium aus dem 19. Jahrhundert in Szene gesetzt. Stöße von aufgeschlagenen und bereitgelegten Noten lassen erahnen, daß keinem der Instrumente längere Ruhephasen gegönnt werden.
Immer in Reichweite einer Klaviatur wohnt hier Eberhard Kraus. Vor siebzig Jahren, am 17. Februar schräg gegenüber der Theresienkirche in einem unlängst abgerissenen Haus geboren, zog die Familie schon bald in das wenige hundert Meter südlich gelegene Anwesen, das er noch heute zusammen mit seiner Ehefrau bewohnt. Für den Sohn des Domorganisten Karl Kraus war eine gediegene musikalische Ausbildung selbstverständlich: Violine, Horn und natürlich Klavier standen auf dem Stundenplan. Seine frühen Engagements und Erfahrungen auf dem Konzertpodium schilderte Kraus mit viel Witz am 18. Februar in der 2. Matinee im Historischen Museum, die er den Musik-Stationen seines eigenen Lebens widmete. Seinen ersten großen Auftritt als Pianist hatte der zwölfjährige Eberhard zusammen mit dem städtischen Orchester. Im selben Jahr durfte er zusammen mit seinem Vater am Klavier und seiner Schwester an der Celesta das Harmonium in Strauss’ Ariadne auf Naxos spielen: die Gage bestand aus einem Klavierauszug des Werkes mit einer Widmung des Operndirektors Rudolf Kloiber.
Nach dem Krieg bot der Offiziersclub der amerikanischen Besatzungssoldaten die Möglichkeit, Musik gegen Stangen Camel-Zigaretten oder exotische Waren wie Oliven zu tauschen und ein völlig neues Musikrepertoire kennenzulernen. Für den Abiturienten am humanistischen Gymnasium waren die Weichen in einen Beruf als Musiker schon längst gestellt: Kraus entschied sich 1950 für drei Hauptfachstudiengänge an der Staatlichen Hochschule für Musik in München: Orgel (Heinrich Wismeyer), Cembalo (Li Stadelmann) und Klavier (Walter Georgii). Ungeachtet der Bedenken seines Klavierprofessors, der allein für seine hohen Ansprüche ein tägliches Übepensum von zwölf Stunden einzufordern versuchte, schloß Kraus alle drei Fächer nach fünf bzw. sechs Jahren mit den jeweiligen Meisterdiplomen ab. Kraus hatte bereits während seines Studiums im Jahre 1953 eine bis heute stehende Säule des Regensburger Musiklebens aufgerichtet: die Sonntäglichen [9/10] Orgelstunden in der Minoritenkirche. Auf Anregung von Walter Boll, dem damaligen Museumsdirektor, stellt Kraus seit 1954 in diesem Rahmen auch regelmäßig Kompositionen vor, die in der Regensburger Region entstanden sind oder einen anderweitigen lokalen Bezug haben. Mit seiner Anstellung als Lehrer für Orgelspiel und Musiktheorie bei den Regensburger Domspatzen war es Kraus nach seinem Studium möglich, sich verstärkt in seiner Heimatstadt musikalisch zu engagieren. Zahlreiche Schallplatten und Rundfunkaufnahmen belegen, daß er zu keiner Zeit eines der drei studierten Tasteninstrumente vernachlässigte. Für sein berufliches Fortkommen spielte jedoch die Orgel die entscheidende Rolle: Spätestens seit seiner Ernennung zum Domorganisten im Jahre 1964, dem das Amt des Orgelsachverständigen der Diözese (1968) und eine Dozentur für Orgelspiel und Orgelkunde an der Fachakademie für Katholische Kirchenmusik (1971) folgten, gilt er als Instanz in Orgelfragen. Zahlreiche Publikationen, darunter mehrere Bücher zur lokalen, wie internationalen Orgellandschaft, zu Repertoire und Geschichte des Instruments unterstreichen dies eindrucksvoll.
Daß Kraus sich in seinen Interessen nicht auf die Musik für Tasteninstrumente einschränken will, belegt seine Arbeit mit dem Collegium Musicum, dessen Leitung er Anfang 1975 von Dr. Ernst Schwarzmaier übernahm. Die Ziele der 1935 gegründeten Vereinigung waren und sind Kraus ohnehin Herzenssache: Sie ist „ein Zusammenschluß von Musikfreunden, die [...] nicht nur Standardwerke der einschlägigen Literatur ausführen, sondern sich auch den Raritäten der Musikgeschichte, der Pflege der zeitgenössischen Musik und der Verlebendigung der heimischen Musikkultur widmen sollen.“ (50 Jahre Collegium Musicum Regensburg 1935–1985, Regensburg o.J., S. 5)
Ob in den beiden Abo-Reihen des Collegium Musicum, der von Kraus 1975 ins Leben gerufenen Bachwoche, den Konzert-Matineen im Historischen Museum oder einer der zahlreichen anderen von ihm initiierten und durchgeführten Konzertreihen: man bekommt stets bislang Ungehörtes präsentiert. Zum einen gräbt Kraus mit großem Vergnügen in ostbayerischen Bibliotheken und Archiven Kompositionen aus und präsentiert sie, oft unter einem bestimmten Thema angekündigt und mit Kommentaren versehen, dem Publikum. Ihn interessiert das breite Umfeld, aus dem die „Großen“ herausgewachsen sind: Man könne Mozart eigentlich nicht verstehen, wenn man die Hofmusik seiner Zeit nicht kenne. Zum anderen stellt Kraus regelmäßig aktuelle Werke zeitgenössischer Komponisten der Region – darunter eine Vielzahl von Eigenkompositionen – vor.
Zum Komponieren ist Kraus erst spät gekommen, was angesichts seines enormen Werkkataloges verwundern mag. Er wollte nicht, wie viele seiner bayerischen Kollegen, in der Nachfolge von Haas und Höller stehen; deren Schreibweise war für ihn längst passé. Seine etwas spöttische Einstellung war, lieber denen das Komponieren zu überlassen, die es nicht könnten. Sein Schlüsselerlebnis hatte Kraus in einem Kurs, den Udo Dammert in der Münchner Musikhochschule über Zwölftonmusik veranstaltete. Nach intensivem Studium der Kompositionstechnik nach dem Vorbild des Schönberg-Schülers Hanns Jelinek, glaubte Kraus sein System gefunden zu haben: ein technisches Gerüst, das sein Komponieren für Jedermann nachvollziehbar mache und damit erst legitimiere. Überhaupt spielt für Kraus die handwerkliche Seite im Kompositionsprozeß eine ganz entscheidende Rolle, die an althergebrachten Modellen zu schulen ist: Ein Komponist, der nicht eine Invention oder eine Fuge schreiben könne, also nicht das Rüstzeug im alten Stil [10/11] habe, der solle es lieber bleiben lassen. Der berühmte „schöpferische Impetus“ allein könne es nicht sein.
Auch bei der Wahl der Zwölftonreihen verfährt Kraus nach klaren Prinzipien: Durch Erfahrung hätten sich für die einzelnen Kompositionsgattungen bestimmte Reihen besonders bewährt. So verwende er beispielsweise bei der Komposition von Sonaten für ein Soloinstrument und Klavier immer dieselbe Reihe, bei der eine akkordische Stütze gut zu realisieren sei. Grundsätzlich bleibe er innerhalb eines Werkes einer Reihe treu, die unter strikter Einhaltung des dodekaphonen Regelwerkes die Komposition bestimme. Die bevorzugten Reihen hat Kraus in einem mittlerweile stark abgenutzten Schulheft in traditioneller Weise mit allen Transpositionen und Modi notiert. Das Heft hat er fast immer dabei, denn arbeiten könne man schließlich überall. Auf Flughäfen werde beispielsweise sehr viel komponiert; bei den langen Wartezeiten habe man sowieso nichts Vernünftiges zu tun!
Sogar die disparat scheinenden Bereiche Improvisation und Dodekaphonie hat Kraus unter einen Hut gebracht. Schwierig sei es und nicht ganz streng zu realisieren, doch mit der Anleitung aus dem dritten Band seines Lehrwerkes Techniken des liturgischen Orgelspiels: Improvisation in modernen Stilen durchaus zu versuchen. Erstmals trat Kraus 1967 in seiner 300. Orgelstunde mit einer Eigenkomposition, den Contrapuncti dodecaphonici I, an die Öffentlichkeit. Das gute Gefühl, das er dabei hatte, hat ihn offensichtlich seither nicht verlassen. Angeregt durch Gedichte, Bilder, besondere Musikinstrumente oder historische Persönlichkeiten – meist mit lokalem Bezug – komponiert Kraus unermüdlich Werk um Werk, und dies weder am noch für den Schreibtisch: wichtig ist ihm, daß die Kompositionen auch gespielt werden, weshalb die Besetzungsfrage meist pragmatisch nach den vorhandenen Möglichkeiten gelöst wird. Kammermusik nimmt den größten Teil seines Œuvres ein. Hier lasse sich zudem eines seiner Hauptanliegen realisieren: alle beteiligten Instrumente sollten nach Möglichkeit ihre klanglichen Charakteristika ausspielen können, ohne durch undifferenzierte Mischklänge ihre Eigenständigkeit zu verlieren.
Kraus im Ruhestand? Gravierend hat sich das Leben des Jubilars seit seiner Pensionierung nicht geändert. Als Stiftsorganist von St. Johann im Schatten der Domtürme verpflichtet er sich weiterhin zu regelmäßigem Orgeldienst im Rahmen der Liturgie. Die sonntäglichen Orgelstunden, die Matineen im Museum und das Collegium Musicum führt Kraus im gewohnten Umfang weiter. Auch seinen Lehrauftrag an der Universität, dem er nunmehr seit 26 Jahren nachgeht, will er weiterhin wahrnehmen. Lediglich bei den Konzertangeboten aus dem In- und Ausland sortiere er sorgfältiger als früher. Die produktive Unordnung in seinem Arbeitszimmer spiegelt den ungehemmten Tatendrang des Siebzigjährigen wieder. Ideen und Material für jede Menge Projekte, seien es Konzerte, Bücher oder Noteneditionen, sind vorhanden, wären sie doch nur ohne Probleme finanzierbar! Das Geld fließe halt viel leichter in schillernde Großprojekte – aber damit habe er schon immer zu kämpfen gehabt.
Daß sich alle vier Kinder aus seiner Ehe mit der Sopranistin Brigitte Kraus für künstlerische Berufe in verschiedenen Bereichen entschieden haben, macht ihn glücklich. Sein ältester Sohn Wolfgang hat sich dabei als einziger für die Musik entschieden und führt die familiäre Tradition als Regionalkantor in Furth im Wald fort.