Juan Martin Koch
Die Regensburger Tage Alter Musik 2001
Der Logik des Grußworts folgend, das OB Hans Schaidinger für die Programmzeitung unterzeichnet hatte, blieb den Veranstaltern der Tage Alter Musik gar nichts anderes übrig, als nach dem „Experiment“ mit neuer Musik im vergangenen Jahr zum „altbewährten Konzept“ zurückzukehren. Schließlich sei diese Erweiterung „besonders für die Mitwirkenden (...) von großer Bedeutung“ gewesen, während die „Publikumsresonanz (...) zu wünschen übrig gelassen“ habe. Im Klartext: Die Politik mußte draufzahlen, weil ein Haufen Musiker selbstgefällig herumexperimentierend nicht darauf achtete, daß diese Veranstaltung als „Werbeträger ersten Ranges“ für die Stadt „inzwischen unverzichtbar geworden“ ist. Diesem Verständnis von Kultur als Zahnrad touristischer Verwertungsmechanismen setzte dann noch das Störfeuer(werk) die Krone auf, das – einer zwölfseitigen Vereinbarung zum Trotz – vom gleichzeitig stattfindenden Turnerfest ausging und das den Rundfunkmitschnitt eines Nachtkonzerts gefährdete. Der Stadt (obwohl Mitveranstalter) war die Terminkollision im Vorfeld gar nicht bewußt gewesen, so daß es ohne das Drängen der Organisatoren von Pro Musica Antiqua noch schlimmer gekommen wäre. Ewas mehr Sorgfalt und Engagement wäre von den städtischen Kulturverantwortlichen schon zu erwarten.
Das entsprechende musikalische Plädoyer fiel im Eröffnungskonzert des Brügger Barockorchesters Il Fondamento allerdings noch schwach aus. Unter dem völlig beliebig ausgefüllten Motto „Französische Orchestermusik am Dresdner Hof“ reihten sich vier Ouvertüren aneinander, deren Bezug zu Dresden im Kommentar nicht einmal erwähnt, geschweige denn musikalisch sinnfällig gemacht wurde. Hinzu kam ein – wie schon vor zwei Jahren – nur mäßig inspirierter Vortrag, der durch eine hörbare Indisposition des Leiters Paul Dombrecht an der Oboe (vielleicht ein Problem des Instruments) zusätzlich getrübt wurde. Dieser gab die Führung, die dem Gesamtklang zumindest eine interessante oboenlastige Färbung gibt, folgerichtig mehr und mehr auf, bevor Jean-Féry Rebels pausenlos-genialische Tour durch die „Caractères de la Danse“ das Programm endlich der Mittelmäßigkeit und die Musiker der Routine entriß.
Nicht restlos überzeugend auch das Domkonzert mit der niederländischen Capella Pratensis. Dem schönen (und historisch belegten) Bild der um ein einziges Notenpult versammelten und den fließenden Schwung ihrer Leiterin Rebecca Stewart auch körperlich aufnehmenden neun Vokalisten entsprach der Chorklang nur bedingt. Ohne nennenswerte klangliche Steigerungsmöglichkeiten widmeten sie sich mittel- und oberstimmenbetont der fiktiven Geburtsmesse Karls V., die Stewart um Pierre de la Rues Missa „Puer natus est nobis“ herum mit ergänzten Propriumsgesängen durchaus erhellend zusammengestellt hatte.
Dennoch zeigte sich einmal mehr die wahre und über die kleinen Karos städtischen Kulturbewußtseins hinausweisende Bedeutung dieses Festivals als Indikator neuer Ansätze und Richtungen in der Alten-Musik-Szene, und vielleicht wird das Jahr 2001 eines Tages als Schlüsseljahr in die Geschichte der Strauß-Interpretation eingehen. Den behutsamen Neuansätzen, die Nikolaus Harnoncourt beim Neujahrskonzert präsentierte, folgte mit dem Auftritt von Jos van Immerseels Anima Eterna in der Minoritenkirche eine Radikal-Entrümpelung, die überwältigender nicht hätte ausfallen können. Nach der grandiosen „Fledermaus“-Beschwörung stellte sich mit der Introduktion zum Walzer „Nordseebilder“ ein fast Brucknersches Weihegefühl ein, das von dem farbig aufgefächerten Originalklang aber ironisch unterwandert wurde. Johann Strauß als Orchestermagier und Formgenie ins Recht gesetzt: eine Sternstunde! Schon Brahms’ Haydn-Variationen und drei Ungarische Tänze hatten die Qualitäten und das subversive Potential Immerseels erfrischend unter Beweis gestellt – der Ausflug ins 19. Jahrhundert geriet dem Festival zum Triumph.
Doch auch auf dessen ureigenem Terrain ereignete sich Großartiges: Die Aufführung von Monteverdis Marienvesper durch die Capella Ducale Venetia unter Livio Picottis Leitung war an Leuchtkraft, sängerischer wie instrumentaler Brillanz kaum zu übertreffen. Die weiche, aber nie konturlose Klangmischung des 18köpfigen Chores mit dem Orchester fand ihre Entsprechung in den wunderbaren Raumwirkungen der Echo-Sätze, und die innovative Kraft Monteverdis öffnete sich zum Kosmos musikalischer Möglichkeiten am Beginn des 17. Jahrhunderts.
Für einen orchestralen Höhepunkt hatte zuvor das italienische Barockensemble Modo Antiquo in der Minoritenkirche gesorgt, auch wenn sich die angekündigte Bläser-Klangpracht in den Concerti grossi Händels und Corellis als unspektakulär und was die Trompeten betrifft als eher prekär herausstellte. Den Kern des Triumphs bildeten vielmehr die auch im Temporausch noch trennscharf und dynamisch ausgreifend artikulierenden Streicher, die Federico Maria Sardelli vor allem auf Vivaldi bestens eingestellt hatte.
Einen andersgearteten Genuß bereiteten die Endzeit-Visionen, die Anonymous 4 in einer fiktiven Messe um das Jahr 1000 samt apokalyptischen Textrezitationen versammelt hatten. Diese vier Hohepriesterinnen des mittelalterlichen Gesangs pflegen einen ganz eigenen Umgang mit dem ein- und zweistimmigen Repertoire dieser Zeit. Anders als bei Immerseel liegt hier die Provokation hinter dem endlosen Schönklang, der fast überirdischen Reinheit der Stimmen und den kleinen Verzierungen und Glissandi eher verborgen, kündet von einer versunkenen Welt, die vielleicht ja doch ganz anders war als wir sie uns vorstellen.
Das Europa-Debüt der Mittelalter-Spezialisten von „Fortune’s Wheel“ setzte eine ähnlich unüberhörbare Wegmarke, nunmehr im französischen Trouvères-Repertoire des 13. und 14. Jahrhunderts. Waren auch die stimmlichen Fähigkeiten Lydia Heather Knutsons und vor allem Paul Cummings’ nicht durchweg auf der Höhe etwa einer Boston Camerata angesiedelt, so überzeugte doch die sensible und einfallsreiche Umsetzung der verschiedenen lyrischen Formen und das Zusammenwirken mit den Instrumentalisten Shira Kammen und Robert Mealy, die neben herausragendem Spiel auf Fidel und Harfe den Gesang bis zur Vierstimmigkeit ergänzten.
Unverwechselbar auch die Stimmung beim zweiten Nachtkonzert im Reichssaal: Im Mittelpunkt des von der Gruppe Ex Umbris um Grant Herreid zusammengestellten Streifzugs durch das Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts stand die mit viel historischer Imagination gestaltete Rezitation des „Romance de Conde Claros“, deren Verse mal gesungen, mal deklamiert und mit instrumentalen und vokalen Beiträgen angereichert auch in gekürzter Form einen faszinierenden Einblick in diese poetisch-sinnliche Welt gewährte. Das Happy-End mündete in ausgelassener und euphorisch umjubelter Tanzfreude, wie sie schon in den vorangegangenen Programmteilen mit maurisch, jüdisch und kanarisch geprägter Musik angeklungen war.
Insgesamt setzten diese Tage Alter Musik also wieder einmal die Maßstäbe, die andere, mit viel Brimborium und städtischen Finanzspritzen aus den Freilichtböden gestampfte „Events“ erst einmal erreichen müssen.