Camilla Weber
Regensburger Musikgeschichte in Straßennamen
Überquert man die Donau auf der Eisernen Brücke, um über den Grieser Steg nach Stadtamhof zu gelangen, läuft man durch eine kleine, unscheinbare Straße mit ein paar Jugendstilvillen aus der Zeit um 1910 und verwunschenen Gärten. Autoverkehr gibt es nicht, nur Fußgänger und Zweiradfahrer, die wohl kaum den Namen auf dem Straßenschild lesen und noch weniger wissen, wer der darauf genannte Herr „Proske“ sein soll.
Karl Josef Proske wurde am 11. Februar 1794 in Gröbnig, Kreis Leobschütz (Oberschlesien) geboren. Während seiner Internatszeit lernte er bereits Klavier, Geige und Flöte. Gegen den Willen des Vaters entschloß er sich im Jahr 1810 nach Wien zu gehen, in die damalige Welthauptstadt der Musik, um dort zwar nicht Musik, aber Medizin zu studieren. Seine freie Zeit verbrachte er in der Oper und in vielen Konzerten, darunter zahlreiche Aufführungen Beethovens. Seine unermüdliche Arbeit als Arzt in Schlesien hätte ihm eine glanzvolle medizinische Karriere im preußischen Staat eröffnen können; 1823 rang sich Proske jedoch dazu durch, seinen eigentlichen, langgehegten Berufswunsch zu verwirklichen und Priester zu werden.
Am 1. September 1823 kam er in Regensburg an und nahm in der ehemaligen Kaiserherberge „Zum Goldenen Kreuz“ am Haidplatz Quartier. Schnell knüpfte er enge Beziehungen zum damaligen Domherren, Koadjutor des Diözesanbischofs und Generalvikar Johann Michael Sailer, einem der bedeutendsten Lehrer des späteren Königs Ludwig I. an der Universität Landshut. Sailer unterstützte ihn nach Kräften in seinem Berufswunsch: am 11. April 1826 wurde Karl Proske in Regensburg zum Priester geweiht; bei seiner Primiz hielt Sailer selbst die Predigt. Proske bekam zunächst eine Stelle als Chorvikar am Kollegiatstift Unserer Lieben Frau zur Alten Kapelle, die er aus Gesundheitsgründen bald wieder aufgeben mußte. 1828 wurde er stattdessen zum Präses der Marianischen Kongregation ernannt. In dieser Zeit begann seine intensive Beschäftigung mit der Kirchenmusik, die im Hohen Dom zu Regensburg sehr im Argen lag.
Domherr Melchior von Diepenbrock, Privatsekretär Sailers und später Fürstbischof von Breslau, kritisierte aufs schärfste diese „elende, unter aller Kritik schlechte, geistlos aus dem Profansten gewählte und noch jämmerlicher ausgeführte Dudelmusik (...)“, die unbeschreibliche „Zuchtlosigkeit des Musikpersonals“ und dessen „Lärm und Gepolter auf dem Chore“ sowie die Unfähigkeit des Domkapellmeisters Cavallo, der ein „blödsinniger, ganz unmündiger Mensch“ sei (Musica Divina, S. 18). Diese Beschwerden über die schauerliche Kirchenmusik an St. Peter zu Regensburg drangen bis zur Regierung nach München, wo der Sailer-Schüler Ludwig I. die Sache genau verfolgte. Karl Proske, der die Zustände aus eigener Anschauung kannte, wandte sich in ersten Reformvorschlägen gegen die bisher übliche bloße Verschönerung und Ausschmückung des Gottesdienstes durch Musik und propagierte die „musica sacra“ als integrativen Bestandteil der Liturgie. Die Voraussetzung einer Reform sah er in der Rückkehr zu den Grundlagen geistlicher Musik an: zum einstimmigen, nur von der menschlichen Stimme ausgeführten Gregorianischen Choral und zur klassischen Vokalpolyphonie Giovanni Pierluigi da Palestrinas und Orlando di Lassos, also einer reinen Chormusik ohne Instrumentalbegleitung. Beide Musikarten legen größten Wert auf die Textverständlichkeit und Textinterpretation – die Musik steht hier ganz im Dienst der Verkündigung des Wortes Gottes, freilich auf höchstem musikalischem Niveau.
Diese Musik versuchte Karl Proske zunächst in einem privaten Singkreis bekannt zu machen, dem erstaunlicherweise auch protestantische Bürger der Stadt angehörten. Als 1829 Johann Michael Sailer Diözesanbischof wurde, konnte er auf dessen Unterstützung bei der Verwirklichung seiner Reformgedanken zählen. 1830 erhielt er durch die Neubesetzung der verwaisten Kanonikate des Kollegiatstiftes zur Alten Kapelle in Regensburg durch König Ludwig I. eine der freien Stellen verliehen. Diese Ernennung enthielt die Verpflichtung, daß Proske „zugleich als Chorregent im Dom zu Regensburg die mit dem bisherigen Amte des Kapellmeisters verbundenen Dienstverrichtungen ohne weitere Ansprüche auf einen eigenen Gehalt hierfür, so lange übernehme, als deßfalls nicht eine andere Anordnung getroffen werden wird. (...) Wir erwarten von der uns angerühmten Geschicklichkeit und dem Eifer des Kanonikus Proske, daß er sich angelegen seyn lasse, die Dommusik in Regensburg wieder zu der dieser Kathedrale angemessenen Würde zu erheben.“ (Ernennungsdekret vom 17. August 1830) Proske machte absolute Handlungs- und Entscheidungsfreiheit zur Bedingung, das Amt anzunehmen und untermauerte sein Vorhaben auch durch theoretische Schriften. Seine Verpflichtungen als Kanonikus ließen ihm aber kaum Zeit, das Amt des Domkapellmeisters auszuüben; zudem war er ab 1832 auch in Regensburg als Arzt tätig. Im gleichen Jahr starb sein Förderer Sailer, 1833 wurde dessen Schüler Franz Xaver Schwäbl zum neuen Bischof von Regensburg ernannt.
Auch für den Stiftskanonikus Proske begann in dieser Zeit ein neuer Lebensabschnitt: am 9. August 1834 trat er eine ausgedehnte Italienreise an, die der Erforschung und Verbreitung der echten und qualitätvollen Kirchenmusik der alten Meister der italienischen Renaissance dienen sollte. Über den Bodensee und St. Gallen, wo er die berühmte Bibliothek besichtigte und einen ersten Codex abschrieb, gelangte er zunächst nach Mailand und fand die Kirchenmusik im dortigen Dom, der Kirche der Heiligen Ambrosius und Karl Borromäus, noch schlechter als im heimatlichen Regensburg. Der aus Mendorf bei Altmannstein stammende Komponist Simon Mayr, seit 1789 in Bergamo lebend und dort seit 1802 Domkapellmeister, bestätigte ihm die kirchenmusikalischen Befürchtungen: man wünsche überall leichte Stücke, die nicht geübt zu werden brauchten, nur solistische Werke für Sänger und Instrumentalisten, aber keine Chormusik. Der Druck sei so groß, daß nicht einmal Mayr – obwohl ein Gegner dieser Praxis – sich ihm entziehen konnte. Auf allen Stationen der Weiterreise machte sich der genaue Beobachter Proske Notizen über Kirchenmusik und Theateraufführungen, bis er am 17. September 1834 durch die Porta del Popolo in die Ewige Stadt Rom einfuhr. Während seines Aufenthaltes dort traf er u.a. König Ludwig I. und die Mitglieder der deutschen Künstlerkolonie. Die Kirchenmusik in St. Peter muß so schrecklich gewesen sein, daß Proske sich fragte, ob er sich tatsächlich in der Hauptkirche der Christenheit befände. Am wichtigsten war aber in Rom die unermüdliche Arbeit des Kanonikus in Archiven und Bibliotheken. Er schrieb zahllose Musikalien ab und erwarb, wo möglich, Originalhandschriften und Drucke. Seine besondere Aufmerksamkeit und Suche galt den Kompositionen Palestrinas, von dem er viele vergessene Werke ermitteln konnte.
In Regensburg waren unterdessen weitere Bemühungen erfolgt, die Kirchenmusik im Dom zu verbessern. Domkapellmeister Cavallo war seines Amtes enthoben worden. Proske formulierte seine Vorstellungen in einer umfangreichen Schrift, hatte jedoch gegen die Anhänger der herkömmlichen Instrumentalmusik im Domkapitel einen schweren Stand. Seine Pflichten als Kanonikus ließen ihm zudem kaum Zeit, dieses Problem intensiv zu bearbeiten. Ab 1841 begann Proske damit, Kompositionen Palestrinas herauszugeben, um der klassischen Vokalpolyphonie und dem A-cappella-Gesang auch das nötige Notenmaterial bereitzustellen. Daneben wollte er Lasso, Anerio und Vittoria edieren. Dazu erstellte der Kanonikus auch einen exakten Katalog seiner Abschriften und Drucke auf gutem Papier – ein Verzeichnis, das bis in unsere Tage genutzt wird. Um 1848 mußte er seine Tätigkeit aufgrund einer schweren Krankheit zeitweise einstellen. Es sollte ihm jedoch gelingen, das musikalische Sammelwerk der sogenannten Musica Divina zu vollenden. Bischof Valentin Riedel unterstützte die Herausgabe einer Sammlung von Choralgesängen für die Feier von Messe und Vesper und einer Sammlung von A-cappella-Kompositionen.
Neben der Tätigkeit als Kirchenmusikforscher arbeitete Proske weiter als Arzt, sofern ihm die Arbeit als Pfarrprovisor der kleinen Stiftspfarrei St. Kassian und seine Gesundheit Zeit und Gelegenheit dazu ließen. Am 20. Dezember 1861 starb Kanonikus Karl Proske in Regensburg und wurde am 23. Dezember auf dem Petersfriedhof beerdigt. Es sollte sich jedoch zeigen, daß seine Bemühungen um die Hebung der Kirchenmusik bisher weitgehend auf taube Ohren gestoßen waren: noch vor dem Ende des Gesanges verließ die Trauergemeinde das Grab. Der neugotische Grabstein für Karl Proske ist einer der wenigen des alten Petersfriedhofs, der die Auflassung der Grabstätten und die Überbauung durch das Bahnhofsgebäude überstanden hat.
Karl Proskes umfangreiche Musikbibliothek, die „Proskesche Musikbibliothek“, befindet sich heute in der Bischöflichen Zentralbibliothek Regensburg. Forscher aus aller Welt nutzen die Quellen, die zum Teil weltweite Unikate darstellen. Seine Abschriften und Forschungen bildeten u.a. den Grundstock für die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehende kirchenmusikalische Reformbewegung des „Cäcilianismus“, die auf so bedeutende Persönlichkeiten wie Franz Liszt oder Anton Bruckner Einfluß ausübte. Regensburg bildete mit den Priestern und Komponisten Franz Xaver Witt aus Walderbach (1834–1888) und Michael Haller (1840–1915) aus Neusath bei Nabburg, ebenfalls Kanonikus der Alten Kapelle, das Zentrum dieser Reformbewegung. Über Franz Xaver Haberl (1840–1910), den Gründer der Regensburger Kirchenmusikschule und dessen Neffen Dr. Ferdinand Haberl (1906–1985), ebenfalls Lehrer an dieser Einrichtung, spannt sich der Bogen dieser Bewegung, die in Karl Proske einen ihrer Gründungsväter besitzt, bis in die Gegenwart.
Literatur:
• Ernennungsdekret vom 17.8.1830, in: Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg OA-KI 3 Nr. 41
• Musica Divina. Katalog zur Ausstellung zum 400. Todesjahr von Giovanni Pierluigi da Palestrina und Orlando di Lasso und zum 200. Geburtsjahr von Carl Proske, Regensburg 1995
• Camilla Weber: Die Dekane, Kanoniker und Chorvikare der Alten Kapelle seit 1830, in: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 34 (2000), S. 231–269
• Dieter Haberl: Präludium zu Carl Proskes Musica Divina, in: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 34 (2000), S. 271–295
• Rainer Kleinertz: Carl Proske, in: Berühmte Regensburger, Regensburg 1997, S. 232–241