Mälzels Magazin

Zeitschrift für Musikkultur in Regensburg

Schriftzug Mälzels Magazin
Hefte2001Nr. 4
mälzels magazin, Heft 4/2001, S. 4–10
URL: http://www.maelzels-magazin.de/2001/4_03_ratisbona.html

Michael Wackerbauer

Regensburgs Geschichte als Bühnenspektakel

Das historisch-poetische Festspiel Ratisbona aus dem Jahre 1910

„Mein lieber Oberst Marbot!
Der Unterfertigte erlaubt sich, Euch hierdurch zu der am kommenden Dienstag stattfindenden Kostüm-Probe des Napoleon-Aktes freundlichst einzuladen. [...] In der festen Überzeugung, dass Ihr mir Eure vollste Unterstützung von Anfang bis Ende sichert, bitte ich Euch dringend um Eure feste Mithilfe und vor allem um promptes Erscheinen. Nach der Probe: Abmarsch in das Nebenlokal des Gasthauses Radlbeck zu einem lustigen Grenadier-Bier-Abend.
Ich begrüsse Euch
Napoleon“
(Slg. Blank. Kasten 31, Blatt 1529)

Ein Brief des großen Feldherren auf Geschäftspapier des Kommerzienrates Ludwig Eckert, Vertreter der Minimax Apparate-Bau Gesellschaft m.b.H., zuständig für den Vertrieb von Hand-Feuerlösch-Apparaten in Regensburg! Die schlimmen Tage, als Teile der Donaustadt in Flammen standen und Oberst Marbot im Stab der französischen Truppen die Einnahme Regensburgs koordinierte, sind glücklicherweise gut hundert Jahre vorbei, der letzte Fasching etwa hundert Tage. Man schreibt das Jahr 1910 – es wird Sommer.

In der ganzen Stadt gibt es nur ein Thema: die Hundertjahrfeier der Zugehörigkeit Regensburgs zu Bayern, verbunden mit einer Huldigung an das Haus Wittelsbach, dem man das Aufblühen der Stadt in den vergangenen Jahrzehnten danken wollte. Zentrum der Veranstaltungen war die „Oberpfälzische Kreisausstellung“, ein von langer Hand geplanter Kraftakt der Regensburger Gewerbevereine unter dem Dach des „Vereins zur Hebung des Fremdenverkehrs“. In einer von Patriotismus und Nationalismus geprägten Atmosphäre sollte die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der als rückständig verrufenen Region demonstriert werden. Als letztes, eher bescheidenes Relikt der imposanten Ausstellungshallen, die sich um den Springbrunnen des neu angelegten Stadtparks gruppierten, existiert heute nur mehr die „Kunsthalle“, die, parkseitig erweitert, seit 1966 die Ostdeutsche Galerie beherbergt.

Die Höhepunkte der Jubiläumsfeiern konzentrierten sich um den Eröffnungstermin der Kreisausstellung am 11. Mai. Prinz Rupprecht von Bayern war bereits zwei Tage zuvor angereist, um der Enthüllung der Büste des im Deutsch-französischen Krieg so erfolgreichen Militärstrategen von Moltke in der Walhalla am Vormittag des 10. Mai beizuwohnen. Nachmittags gab es ein Diner zu Ehren der Organisatoren der Kreisausstellung bei Sr. Durchlaucht Herrn Fürsten von Thurn und Taxis und am folgenden Tag den großen Festakt auf dem Ausstellungsgelände.

Doch der 11. Mai hatte noch mehr zu bieten. Wer das übliche langatmige Zeremoniell von Grußworten, Reden und Huldigungsgesten gegenüber der anwesenden Königlichen Hoheit tapfer durchgestanden hatte, konnte sich am Nachmittag auf ein kurzweiliges Kontrastprogramm freuen. Dr. Raimund Gerster und der Obermusikmeister Ludwig Kleiber luden um 16 Uhr zur Festvorstellung des „historischpoetischen Spiels“ Ratisbona in acht dramatischen Szenen und einem Vorspiel ins Stadttheater, dessen angestammtes Ensemble sich bereits in den Theaterferien befand.

Private Initiative und eine hohe Einsatzbereitschaft vieler Regensburger Bürger machten in diesen Tagen ein Theaterspektakel mit ganz eigentümlichem Reiz möglich. Zeitungsanzeigen warben mit der Ankündigung von 350 Darstellern, historisch treuen Kostümen und Dekorationen für das Stück, das „in dramatischer Form die Hauptmomente der 2000jährigen Geschichte Regensburgs“ vorzustellen versprach.

Mit dem Namen Gerster verband man in Regensburg über mehr als sieben Jahrzehnte ein starkes politisches und gesellschaftliches Engagement (Greipl 1997, S. 282 ff.). Der Vater des Festspielautors, Dr. Carl Gerster, einziger Verfechter der Homöopathie unter den Regensburger Ärzten, organisierte seit 1848 maßgeblich das liberale politische Lager und war als flammender Redner, der den nationalstaatlichen Gedanken bei unzähligen Auftritten zu verbreiten suchte, berühmt. Karriere machte er auch als Funktionär in der musikalisch-politischen Sängerbundbewegung. So wirkte er bereits ein Jahr nach seiner Ankunft in Regensburg bei der Vorbereitung des Regensburger Sängerfestes von 1847 mit.

Carl Gersters Sohn Raimund scheint nicht nur das Rednertalent von seinem Vater geerbt zu haben. Auch als Arzt und Kommunalpolitiker trat er in dessen Fußstapfen. Heute noch greifbar sind die amüsant zu lesenden Früchte seiner schriftstellerischen Produktion. Dem sehr persönlich gefärbten Stadtführer Alt- und Jung-Regensburg aus dem Jubiläumsjahr 1910 kann man nur eine Neuauflage wünschen! Neben den topographischen Gegebenheiten geht Gerster hier launig auf das zeitgenössische „Strassenleben“ mit all seinen Originalen ein, wie dem „Mozartl“, der in Wirtshäusern seiner Harfe Töne entlockte, die klangen, „als wären sie Jahrhunderte hindurch [in dem alten Instrument] eingerostet und eingestaubt gewesen“ (S. 115). Gelegentlich trat Gerster auch als Dichter von meist vertonten Jubelhymnen an die Öffentlichkeit, wie bei der Einpflanzung der „Schillerlinde“ (1905), zur Aufstellung der Bismarck-Büste in der Walhalla (1908) oder anläßlich der Eröffnung der Bahnlinie Regensburg-Falkenstein (1913) (Greipl 1997, S. 286 ff.). Auch am Vortag der Premiere seines Festspiels hatte der Regensburger Liederkranz bei der Moltkefeier in der Walhalla ein von Gerster zur Musik des Priestermarsches aus der Zauberflöte verfaßtes Weihelied vorgetragen (Regensburger Anzeiger 231/11. 5. 1910).

Das Festspiel Ratisbona sollte der Höhepunkt seiner künstlerischen Ambitionen werden. Gemeinsam mit Ludwig Kleiber, Chef der ortsansässigen Kapelle des Königlich Bayerischen 11. Infanterie-Regiments „Von-der-Tann“, der die Musik zum Schauspiel komponierte, entstand ein Historiengemälde, dessen Umsetzung einen hohen personellen und technischen Aufwand erforderte. Es sollte ein Stück von Regensburgern für alle Bürger der Stadt und die erwarteten auswärtigen Gäste werden: so wurden sämtliche Positionen von der Statisterie bis in die Hauptrollen mit ortsansässigen Laienschauspielern besetzt; Domkapellmeister Engelhart studierte den Damengesangverein und den Regensburger Liederkranz ein. Um die etwa 300 Mitwirkenden logistisch in den Griff zu bekommen, wurden Informationen zu den einzelnen Probenabläufen und den Vorstellungen detailliert über Zeitungsanzeigen verbreitet. Für Bühne und Beleuchtung war Karl Wild jun. zuständig. Seine Entwürfe wurden von professioneller Seite durch den Theatermaler Heinrich Geistreiter und Sohn sowie die Königlich Bayerische Hofkostümanstalt Diringer in München umgesetzt.

So entstanden bei aller Uneigennützigkeit der Beteiligten hohe Kosten, die durch Spendenaufrufe und Benefizveranstaltungen im Velodrom aufgefangen werden sollten. Hinzu kam der Verkauf einer offiziellen Festpostkarte und diverser Schriften unterschiedlichen Umfangs. Da gab es ein schlichtes Programmheft, in dem lediglich das Personal und die Szenen angegeben werden und natürlich das Textbuch mit einer Inhaltsangabe, szenischen Erläuterungen und einer detaillierten und sehr lebendigen Beschreibung der Musik durch den Komponisten. Letztere ist besonders wertvoll, da das zugehörige Notenmaterial vom Autor leider noch nicht aufgefunden werden konnte. In einem weiteren Heftchen kommentierte Gerster ausführlich sein Werk. Zusammen mit den zahlreichen Szenenphotos, die man in einer aufwendiger gestalteten Programmbroschüre erwerben konnte, läßt sich noch heute eine relativ gute Vorstellung von den Aufführungen entwickeln.

Man hatte einen vergnüglichen Tag auf der Ausstellung verbracht, vielleicht noch etwas Entspannung im Biergarten gesucht und sich beizeiten neugierig Richtung Stadttheater aufgemacht. Etwas Nachhilfe in Lokalhistorie könne nie schaden! Wie würde sich der Nachbar, ein Arbeitskollege oder ein Familienmitglied auf der Bühne schlagen? Mancher Theaterneuling mußte sich erst an die ungewohnte Atmosphäre in dem reich geschmückten Zuschauerraum gewöhnen, doch langsam kehrte Ruhe ein. „Die Ouvertüre beginnt mit einem, in weitem Bogen sich abwärtsspannenden ,Sonnenuntergangsthema‘“, – so Kleiber in seiner Einführung – „aus welchem sich deutlich das leise Rauschen des Stromes mit seinem charakteristischen Wasserkreiseln und -strudeln illustrierend abhebt“ (Textbuch, S. 65). „So umrauschen die Töne der brausenden Donau uns wie die Fluten in Wagners ,Rheingold‘ “, assoziierte einer der begeisterten Rezensenten (Regensburger Anzeiger 333/8.7.1910). Weitere Motive werden eingeführt, darunter das „Walhallathema“, „auf dessen musikalischen Fundament der Schluß des Festspiels sich aufbaut.“ Auch Bekanntes ließ sich vernehmen: „zwischen die Durchführung obiger [...] Themen [sind] episodenhaft Motive des Regensburger ,Donaustrudelliedes‘ eingestreut, mit dessen Kantus im vollen Orchester die Ouvertüre zur Szene überleitet.“ Der Vorhang ging auf und man blickte etwas belustigt und leicht irritiert auf ein wohlvertrautes Bild. Der Musentempel war vergessen – man saß zwischen Biertischen mitten im Spitalgarten mit seinem grandiosen Blick auf Steinerne Brücke und Dom. Gymnasialabsolventen haben sich versammelt, um lautstark einen neuen Lebensabschnitt einzuläuten. Einer von ihnen, Siegwart, fällt allerdings aus der Reihe. Aufgefordert, doch endlich seine heimliche Liebschaft zu offenbaren, besingt er stark bewegt seine Braut, wobei er zunehmend den Bezug zur Realität verliert: „Sie badet wie Venus im Frührotlicht / Wer sie so schaut, den faßt der Wahn [...] Sie grüßt herüber über den Strom/In seinen Tiefen malt sich ihr Dom.“ Wenig später tauchen unter leiser träumerischer Musik aus diesen Tiefen Donauweibchen, Nixen und Elfen auf, unter ihnen Danuvius, „als Flußgott mit wallendem Haar und Bart mit buschigen Augenbrauen, mit Schilf und Wasserpflanzen geschmückt.“ Er wird Sieghart seiner Tochter Ratisbona zuführen: „Einer ist er von jenen unseligen Zwittern, den Dichtern, die in Menschengestalt wandern, und ihre Seele fliegt in unendliche Weiten. [...] Wo andere kalte Steine und Trümmer sehen, da sieht er dein glorreiches Leben. Da werden wieder vor ihm lebendig, die einst hier gewandelt. Wandere wieder von Stätte zu Stätte, [...] wohin dein Fuß tritt, liebliche Tochter, da erstehe zu neuem Leben, was einst hier gewesen.“

In seiner Einführungsbroschüre erläutert Gerster den Entschluß, die nachfolgenden Szenen aus der Regensburger Stadtgeschichte als skizzenhaftes Traumgebilde, „als eine dem Liebenden geschenkte holde Vision“ vorübereilen zu lassen: „Mit der Wahl eines Abiturienten als begnadeten Visionärs glaubte ich auch die stellenweise starke Idealisierung, die lyrische Stimmung, die einen breiteren Boden einnimmt als die Dramatik und die schwärmerische Begeisterungsfähigkeit, lauter Momente, durch die ich den an sich trockenen Stoff mundgerecht und eindrucksvoll machen wollte, am leichtesten und glaubhaft begründen zu können. Ratisbona, mit dem Auge des Liebenden geschaut, soll das Herz des Zuschauers ergreifen.“ (S. 15)

Gerster ließ sich bei der Gestaltung des Stückes vor allem von einem Ziel leiten: Es sollte „jedem ohne Rücksicht und Vorkenntnisse oder Schulung“ allein durch seine Empfindungsfähigkeit offen stehen. Eine einfache, ungekünstelte Sprache, ein historisch stilgerechtes Bühnenbild in natürlichen Maßen und entsprechend abgestimmte Musik sollten eine „aus direkt greifbarer Anschaulichkeit entspringende Wirkung hervorbringen.“ Kritikern einer populären Gestaltungsweise hielt ein Rezensent die Oberammergauer Passionsspiele entgegen, die das Herz eines Christen mehr ansprächen als Klopstocks Messias (Regensburger Anzeiger 238/18.5.1910).

Damit die Dramatik der Darstellung einer über zweitausendjährigen Geschichte nicht zum einfachen lebenden Bild verflache, habe er bei der Auswahl der Szenen neben der geschichtlichen Bedeutung und dem allgemeinen Interesse ein besonderes Augenmerk auf deren Beziehung untereinander gelegt, weshalb so manches bedeutende Ereignis unter den Tisch gefallen sei.

So entstand eine chronologisch angeordnete Abfolge von Szenen, die im Wechsel von individuellen Schicksalen und Massenauftritten geprägt ist. Etwas skurril erscheint uns heute die erste Szene, eine Idylle aus der Vorzeit, in der „das Weib“ in einem Pfahlbau den geliebten Mann von der Jagd zurückerwartet. Freudig erschallt ein „Heiaho, heiaho!“ als er mit der Beute in seinem Boot naht. Die liebevolle Zweisamkeit wird auch musikalisch unterstrichen: „Den erotischen Schluß des Bildes läßt [Kleiber] in einem passenden Orchestersatze ausklingen, aus dessen Polyphonie kriegerische Fanfaren zum 2. Bilde überleiten. Aus der rhythmisch straffen Bewegung der Streicher glauben wir den ehernen Schritt der römischen Legionen zu vernehmen.“ Der Kontrast könnte nicht größer sein. Vor dem Hintergrund der Einweihung des Lagers Castra Regina statuiert ein römischer Kriegsrat inmitten mehrerer Dutzend gerüsteter Legionäre ein Exempel: die keltische Seherin Albruna wird wegen des Verdachts der Kollaboration mit Aufständischen nach Sizilien verbannt. Auch die nächstenbeiden Szenen bringen viel Personal auf die Bühne. Zunächst geht es um die Annahme des Christentums durch Herzog Theodo und sein Gefolge. Viel Volk ist auf dem Vorhof einer „großen romanischen Kirche“ versammelt. Nach anfänglichem Murren der „bajuvarischen Kriegsobersten“ Wolfcrim, Wazaman und Passivus, wird schließlich doch unter dem mächtigen Chorgesang des „Psalmus 8 Davids, gesungen nach dem Rituale romanum“, die Taufe vollzogen. „Das Psalmthema am Schlusse des Bildes aufnehmend und weiterspinnend, führt [Kleiber] mit historisch gehaltenen Pfeifer-, Trommler- und Trompetensatz vor die Tore des Reichstages unter Friedrich Barbarossa“ im Juli 1180. In Anwesenheit des Kaisers, einiger Reichstagsmitglieder, der stolzen Kaufmannschaft und mehrerer Handwerksgilden wird u. a. die Rechtsstellung der neu erbauten Steinernen Brücke verhandelt. Regensburg ist eine reiche Handelsmetropole und läßt in den nächsten Jahrhunderten einen Dom errichten, dessen wohl profiliertester Baumeister, Wolfgang Roritzer, im Zentrum der fünften Szene steht. Im Wohnzimmer des „Thummaisters“ mit Ausblick auf den Dom spielen sich die letzten Minuten Roritzers vor seiner Festnahme wegen seines Engagements für Bayern ab.

Nach der Pause geht es im intimen Rahmen weiter: Barbara Blomberg betört den kränkelnden und schlecht gelaunten Karl V. bei dessen drittem Aufenthalt im „Goldenen Kreuz“ im Jahre 1546. Aus dem Nebenzimmer ertönt Gesang: die sechsstimmige Huldigungsmotette Heroum soboles aus dem 1556 erschienenen I. libro de mottetti a cinque & sei voci von Orlando di Lasso (wie man heute weiß eigentlich zu Ehren von Erzherzog Karl II. komponiert). Karl lauscht aufmerksam und zeigt sich besonders bei dem Hervortreten der „Solostimme“ bewegt. Der Knabensingmeister Gombert, einer der herausragendsten Komponisten seiner Zeit (allerdings 1546 wahrscheinlich längst nicht mehr in Karls Diensten), wird aufgefordert: „Bringt mir den Chorknaben, dessen süße Stimme mich für einen Augenblick mein Leid vergessen ließ.“ Betreten präsentiert er die Regensburger Bürgerstochter seinem Herrn, der mit verhaltener Stimme hervorbringt: „Bei Gott, das ist der Chorknabe. Jungfrau, ihr seid schön. Ihr seid noch schöner als ihr singt.“

In den letzten drei Szenen treten die Individuen wieder in den Hintergrund. Gerster möchte sein politisches Credo von der Notwendigkeit der nationalen Einheit transportieren. Sehr komisch gelingt ihm eine Sitzung des Churfürstlichen Kollegiums auf dem Immerwährenden Reichstag, das sich durch ein hohes, übertriebenes Zeremoniell und leere Redefloskeln völlig lähmt, was schließlich in den „Untergang“ mündet, dargestellt in der nächsten Szene, Napoleon I. vor Regensburg. „Deutschlands größte Ohnmacht und dessen tiefste Erniedrigung wird durch eine Beugung des Liedes ,Deutschland über Alles‘ auf einem düsteren Orgelpunkte markiert. Aus diesem Thema mit der ,Marseillaise‘ als thematischen Kontrapunkt baut sich eine Kampf- und Schlachtmusik auf,“ – man kennt das Verfahren von Beethoven/Mälzel oder Tschaikowsky – „welche zur Erstürmung Regensburgs durch Napoleons Armeen führt. Aus den Schrecknissen der Szene leitet eine Verwandlungsmusik mit teilweiser Benützung der ,Wacht am Rhein‘ – die neue Zeit Deutschlands Einigung andeutend – zur Schlußapotheose. Das in der Ouverture als 2. Motiv eingeführte ,Walhallathema‘, von Trompeten, Hörnern, Posaunen und Pauken im hehren E-Dur hellerklingend und gleichsam die reinen Konturen des schönsten Denkmals deutscher Einigkeit umstrahlend, wird von gedämpften Streichinstrumenten melodramatisch weitergesponnen und führt zur Königshymne als Schluß.“ (Textbuch, S. 66)

Ein Mordsspektakel unter Aufbietung aller theatralischen Register; ein politisches Stück, in dem lokalhistorische Ereignisse mit deutscher Geschichte verknüpft werden; aber auch eine große gemeinschaftliche Aufgabe, die – will man den Kritikern glauben – auf hohem Niveau gemeistert wurde. Daß der Spaß an der Sache dabei keineswegs zu kurz kam, zeigen beispielsweise der eingangs zitierte Brief oder erhaltene Postkarten, auf denen sich einzelne Darsteller verkleidet in Pose werfen (Slg. Blank. Kasten 31, Blatt 1531). Bis Mitte Juli bot sich die Möglichkeit, eine der zehn umjubelten Vorstellungen zu besuchen, die öffentlichen Probeaufführungen nicht eingerechnet. Ein Rezensent (Regensburger Anzeiger 333/8.7.1910) stellte nach seinem letzten Besuch des durchweg ausverkauften Stücks etwas betrübt die Frage: „Wäre es nicht möglich, wenigstens mit einem Teil dieser Bilder zum dauernden Gedächtnis die leeren Wände unseres neuen Rathauskellers zu schmücken? Man kann nicht glauben, daß nun in Bälde das reizvolle Festspiel zu den Dingen gehören soll, die gewesen sind.“

Literatur:
• Raimund Gerster: Alt- und Jung-Regensburg, nach A. Küsser, Regensburg 21910
• Ders.: Das Festspiel Ratisbona [Einführung], Regensburg [1910]
• Raimund Gerster, Ludwig Kleiber: Ratisbona. Historischpoetisches Spiel in 8 dramatischen Szenen und einem Vorspiel [Textbuch], Regensburg 1910
• Dies.: Ratisbona. Historisch-poetisches Spiel in 8 dramatischen Szenen und einem Vorspiel [Programmheft mit Szenenphotos], Regensburg [1910]
• Dies.: Regensburger Festspiele „Ratisbona“ [Programm], Regensburg [1910]
• Egon Greipl: Dr. Carl Gerster und Dr. Raimund Gerster – biographische Bemerkungen zu einer Regensburger Familie (1813–1892 und 1866–1953), in: Berühmte Regensburger, Lebensbilder aus zwei Jahrtausenden, hrsg. von K. Dietz und H. Waldherr, Regensburg 1997, S. 280–288
• Bärbel Kleindorfer-Marx: Die Oberpfälzische Kreisausstellung 1910 anläßlich der Hundertjahrfeier der Zugehörigkeit Regensburgs zu Bayern, in: Feste in Regensburg. Von der Reformation bis in die Gegenwart, hrsg. von K. Möseneder, Regensburg 1986, S. 559–575
• Regensburger Anzeiger, 48. Jahrgang (1910)
• Theatersammlung Andreas Blank, Stadtarchiv Regensburg

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