Thomas Emmerig
Eine Erinnerung an Josef Otto Mundigl (1942–1999)
„Musik aus Strom“ – der Begriff benennt den Lebensinhalt Josef Otto Mundigls, der Komponist und Entwickler aus gleicher Leidenschaft war. Er verweist aber auch auf die geschlossene Welt, die entsteht, wenn ein Komponist aus dem Generator einen Ton „schöpft“, diesem Ton durch die Verwendung elektrischer Geräte die Qualitäten gibt, die er als sein „Schöpfer“ ihm zugedacht hat, den so „geschaffenen“ Ton mit anderen Tönen zu Klängen und mit anderen Klängen zu Musik verbindet.
„Musik aus Strom“ zu schaffen, das bedeutete für Mundigl, daß er über völlig freies Material verfügen konnte – eben über den aus Strom gezeugten Ton –, das in keiner Weise vorbestimmt war, und daß er die absolute Freiheit besaß, jeden einzelnen Ton in jedem Parameter nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Instrumentale Musik, also Musik für herkömmliche Musikinstrumente, konnte in seinem Verständnis nie einen hinreichenden Grad von Perfektion erreichen.
Mundigl hatte sich mit ausschließlicher und ausschließender Konsequenz der geschlossenen Welt der elektronischen Musik verschrieben – nicht nur als Komponist, nicht nur als Entwickler, sondern auch als Musikwissenschaftler. Intensiv dachte er über die Grundlagen des Komponierens an sich nach, dann auch über jene des Komponierens elektronischer Musik. Daraus ergaben sich Konsequenzen für seinen Weg vom Synthesizer zum Computer und somit letztlich immer für sein kompositorisches Werk.
Mundigl saß allein in der geschlossenen Welt seines eigenen Studios in Saal bei Kelheim, er benötigte keinen Musiker, nicht einmal einen Techniker – er arbeitete grundsätzlich allein. Seine eigene Musik war aufgrund ihres elektronischen Klangmaterials zweifellos von Anfang an „experimentelle“ Musik. Das galt selbstverständlich zunächst für den Hörer, der sonst nicht mit Musik aus elektronischem Klangmaterial in Berührung kam. Umgekehrt mochte diese Musik anderen Komponisten elektronischer Musik als „experimentell“ erscheinen, weil Mundigl ganz offensichtlich Anklänge an Bekanntes nicht scheute. Er war kein Purist, der nur der Technik folgte, er war vielmehr ein strenger, konsequenter Arbeiter, dem interpretatorischer Ausdruck im elektronischen Medium über alles ging.
Als Mundigls erstes gültiges Werk, als seine „Elektronische Studie Nr. 1“, entstand sein Dialog für zwei Lautsprecher (1972), scheinbar eine streng gearbeitete „Kopfmusik“. In einem Werkkommentar zur Uraufführung wies er ausdrücklich darauf hin, daß „die Imitation menschlicher Laute so in die klangliche Umgebung eingebaut [ist], daß die Laute unkenntlich werden, d. h. daß sie der Hörer aufgrund der vorausgehenden und der nachfolgenden Information nicht mehr als dem Spektrum der Sprache angehörend identifiziert“.
Im Jahre 1974 schuf Mundigl mit dem ersten Teil seiner Komposition Kristalle ein Werk, das geradezu zu einem „Klassiker“ werden sollte: eine „elektronische Klangfarbenmusik zu Bildern von Karl Freyer“ mit beträchtlichem suggestivem Potential. Der zweite Teil folgte 1980/81. Der Komponist hatte sich damit eine riesenhafte Aufgabe von erheblichem Umfang gestellt, besteht doch bereits der erste Teil aus zwölf Sätzen mit einer Aufführungsdauer von zusammen etwa 43 Minuten. Entscheidend ist bei dieser Musik der Umstand, daß durch die elektronischen Hilfsmittel der Klang ebenso vielfältig beeinflußbar ist wie in der instrumentalen Musik der Ton. In einem Werkkommentar zum zweiten Teil schrieb der Komponist 1981: „Während Kristalle I eine oft ans Wuchernde grenzende Materialfülle zeigt, in die auch konkrete Elemente eingeflossen sind, ist in Kristalle II eine gewisse Beharrlichkeit zu erkennen, welche aus kompositorischer Sicht höhere Ansprüche an die Materialgestaltung stellt.“ In der Presse fand dieses Werk ganz überwiegend eine sehr positive Resonanz, bei der nur die Begründungen entsprechend dem Blickwinkel und der Hörerfahrung des jeweiligen Rezensenten wechselten.
Josef Otto Mundigl wurde am 8. Oktober 1942 in Langquaid in Niederbayern geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Kelheim studierte er an der damaligen Pädagogischen Hochschule in Regensburg bis zur ersten Lehramtsprüfung 1969. Anschließend war er als Volksschullehrer in Regen, Lengfeld, Biburg und Kelheim tätig. Im Jahre 1968 nahm er daneben das Studium der Musikwissenschaft und Pädagogik an der Universität Regensburg auf, das er 1975 abschloß. Ab 1970 beschäftigte er sich intensiv mit elektronischer Musik, Schallanalyse und Komposition; 1974/75 gab er Einführungskurse in die elektronische Musik an der Volkshochschule Regensburg und ab 1976 unterrichtete er beim Internationalen Arbeitskreis für Musik im Rahmen der Lehrerfortbildung. Mit einer Dissertation über Elektronische Musik im Unterricht wurde er 1981 promoviert. Im Jahre 1989 erkrankte er schwer, woraufhin er 1993 vorzeitig pensioniert wurde.
Im Regensburger Musikleben nahm Mundigl in zweierlei Hinsicht einen bemerkenswerten Platz ein: Zum einen war er der einzige Komponist in der Region, der (fast) ausschließlich elektronische Musik schuf. So erschien es typisch für seine nicht nur in der Region isolierte Situation, daß er in späteren Jahren die Komponisten der Vereinigung Ostbayerischer Tonkünstler „nur aus der Presse“ kannte, die umgekehrt ihn mehrheitlich wohl überhaupt nicht zur Kenntnis nahmen. Zum anderen hatte Mundigl in Regensburg im Lauf der Jahre ein erstaunlich großes und treues Publikum gewonnen. In der Volkshochschule Regensburg fand er in den Jahren 1975–1997 immer wieder einen aufgeschlossenen Partner für die Durchführung seiner Konzerte.
Der Entwickler Mundigl ist vom passionierten Lehrer nicht zu trennen. Letzterer sah die elektronische Musik als „Stiefkind der Musikpädagogik“. Er war nicht bereit, dies einfach hinzunehmen, und so arbeitete er auch über diese Thematik. Der Schulsynthesizer SYNTHI-E der Firma EMS einerseits und die Dissertation über Elektronische Musik im Unterricht andererseits bezeichnen zwei Pole seines Tuns. Und damit sprechen wir bereits wieder vom Entwickler Mundigl, da es sich bei dem Schulsynthesizer um seine eigene Entwicklung handelt, auf der seine Dissertation aufbaut, die dann aber weit darüber hinausgreift und seine eigenen Erkenntnisse beschreibt.
Bereits früh hatte Mundigl von der Möglichkeit gesprochen, die Steuerung der Musik vom Komponisten unabhängig zu gestalten. Eine mögliche Lösung dieses Problems sah er in der Anwendung des „menschlichen Faktors“, in der Verwendung der Hirnströme oder des Pulses eines Menschen als Steuereinheit für den Synthesizer. Die ersten Versuche zur praktischen Umsetzung unternahm der Komponist bereits im Jahre 1976. Damals brachte er unter dem Titel Stripe-this ein Stück zur Aufführung, das von einer „pulsgebenden“ Dame und vier Spielern an vier Synthesizern und vier Tonbandgeräten ausgeführt wurde.
Auf die Erfahrungen mit dieser Aufführung folgte ein langer Prozeß der intensiven Reduktion und Konzentration in den Mitteln, bis Mundigl im Jahre 1982 sein 1. Körperstromkonzert zur Aufführung brachte und dafür neben der „pulsgebenden“ Dame nur einen Synthesizer und ein Tonbandgerät benötigte. In einem Werkkommentar schrieb er: „Von den Kompositionen nimmt das Konzert für Puls und elektronische Klänge eine besondere Stellung ein, weil hier erstmals versucht wird, einen Menschen solistisch als ,Klangsteuereinheit‘ in eine Art Konzert mit vier anderen Signalquellen einzubeziehen. Der Puls eines Konzertbesuchers steuert über ein Hilfsmodul einen Synthesizer, wobei ein kybernetischer Regelkreis entsteht. In diesen Regelkreis greift der Komponist ein, indem er den Synthesizer so programmiert und präpariert, daß der Pulsstrom als Steuerstrom auf die Module des Synthesizers bezogen werden kann – vom Prinzip her eine Welturaufführung auf dem Gebiet der experimentellen Musik.“ Zu Recht betonte er die Bedeutung der Aufführung und des Werkes, bei dem es sich um ein Hauptwerk innerhalb seines OEuvres und das Zentrum seines kompositorisch-technischen Bemühens handelte.
Im Jahre 1993 erreichte Mundigl mit der Videoproduktion Fraktale Welten in seinem Schaffen die größtmögliche Annäherung an die Wissenschaft. Aus der Anwendung der Chaostheorie, die auf Erkenntnissen der Mathematik beruht, schuf der „Computerkünstler“ Ernst Lankes Bilder bizarrer Landschaften und kosmischer Welten. Mundigl bescheinigte ihnen in einem Begleittext zur gemeinsamen Produktion „nie gekannte Schönheit und hohen ästhetischen Reiz“ und fügte eine Musik hinzu, die auf der mathematischen Musiktheorie beruht. Der Komponist erklärte, „daß jedes Element der Elektronischen Musik sich exakt durch eine Formel beschreiben läßt. [...] Daraus folgt, daß sowohl in der Komposition Elektronischer Musik als auch im Aufbau von Fraktalen verwandte Arbeitsprinzipien zur Anwendung gelangen.“
In den Jahren ab 1993 ließ Josef Otto Mundigl sich auf die alte Tradition des Komponisten als Bearbeiter ein und setzte sich eigenschöpferisch mit Johann Sebastian Bachs Zweistimmigen Inventionen auseinander. Hier war er im Grunde ganz bei sich selbst: als Analytiker der gegebenen Musik, als schöpferischer Komponist und als Entwickler, in diesem Fall jedoch nicht von technischen Dingen, sondern als einer, der die Ergebnisse der Analyse und der schöpferischen Idee zusammenbrachte, um daraus Neues entstehen zu lassen: „Das Kreative daran ist, neue Klänge für einen Bach zu finden.“ Mit diesen Werken schließt sich somit gleichsam der Kreis zurück zu der „Jugend“ von Mundigls Komponieren, hatte er sich doch von Anfang an mit elektronischer Musik, Schallanalyse und Komposition – in dieser Reihenfolge – beschäftigt. Er hörte und analysierte, analysierte und hörte, und dann schuf er seine eigene experimentelle Musik. Ob er wie zu Beginn reale Stimmen, also vokale Anteile oder deren Imitation, in seine Kompositionen einbezog, ohne daß das im abgeschlossenen Werk unmittelbar erkennbar wurde, oder ob er Bachs Zweistimmige Inventionen als Ausgangsmaterial betrachtete und sie gleichsam in das beginnende 21. Jahrhundert holte, darin liegt letztlich kein entscheidender Unterschied. Er hatte Anton Weberns Umgang mit dem Ricercar aus Bachs Musikalischem Opfer offenbar sehr genau analysiert; was Webern mit den instrumentatorischen Mitteln des frühen 20. Jahrhunderts erreichte, das tat er selbst mit den computertechnischen Mitteln des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts und brachte damit Bachs Musik geradezu zum Leuchten. Bis zuletzt arbeitete er an der Ergänzung des Zyklus dieser Inventionen, den er aber nicht mehr vollenden sollte. Am 15. September 1999 ist er völlig überraschend verstorben.