Alois Späth
„Gregorius Aichinger Ratisbonensis“ – ein Komponist zwischen Renaissance und Barock
Vertraute Namen großer Komponisten tönen in uns, denken wir an die Musik der Renaissancezeit, so etwa Lasso, Palestrina, Willaert, Clemens non Papa, de Monte oder Andrea und Giovanni Gabrieli und mit ihnen schon in die Epoche des Barock hineinreichend Berühmtheiten wie Sweelinck, Marenzio und nicht zuletzt Monteverdi. Größen, wie sie hauptsächlich auf dem Parkett der internationalen Musikbühne des damaligen Europa zu finden waren, tätig in Städten wie Rom, Venedig, Antwerpen, Paris oder auch München, wo sie bei kirchlichen Institutionen oder Adelshäusern ihre Geldgeber fanden.
In der letzten Ausgabe von Mälzels Magazin zeigte Franz Körndle die Beziehungen Orlando di Lassos zur Stadt Regensburg und ihrem Musikleben auf. So konnte man sich die beruhigende Gewißheit verschaffen, daß Regensburg, wenn es im sechzehnten Jahrhundert auch nicht zu den Zentren der europäischen Musikkultur zu rechnen war, doch einen Platz im näheren musikalischen Umland dieser Hochburgen einnahm. Der vorliegende Beitrag will Regensburg nun noch ein Stück näher an das musikalische Zentrum der Renaissance und des Frühbarocks heranrücken, indem von Gregor Aichinger die Rede sein wird. Denn dieser Organist und Komponist, der in der europäischen Musikwelt seiner Zeit beträchtliches Ansehen genoß, war, obwohl er einen Großteil seines Lebens in Augsburg wirkte, auch nach Schriftzeugnissen aus eigener Hand stark mit der Stadt Regensburg verwurzelt.
Gregor Aichinger wurde wohl 1564 in Regensburg geboren. Eine Taufmatrikel, welche Ort und Jahr seiner Geburt sicher belegen würde, findet sich nicht. Das Jahr seiner Geburt läßt sich aus eigenen späteren Angaben Aichingers zu seinem Alter rückschließen. Ihn als gebürtigen Regensburger zu sehen ist schon deshalb berechtigt, da er sich selbst in den Widmungen seiner Werke (1590 und 1595) als „Gregorius Aichinger Ratisbonensis“ bezeichnet und auch die Inschrift seines Grabsteins im Kreuzgang des Augsburger Doms ihn „Ratisbonensis Boius“ nennt. Seit 1334 ist zudem die Ansässigkeit einer Familie Aichinger in Regensburg bestätigt, von 1535 bis 1564 bewohnen Aichingers (deren Familienwappen sich mit dem von Gregor Aichingers Exlibris deckt) ein Haus auf dem „schönen Marienplatz“ (dem heutigen Neupfarrplatz) in Regensburg. Noch heute ist in der Toreinfahrt eines Nachfolgebaues, der das Bekleidungsgeschäft Rothdauscher beherbergt, der Wappenstein der Familie Aichinger von 1539 zu sehen. Dennoch ist in den alten Urkunden der Stadt ein Gregor Aichinger nicht ausdrücklich erwähnt. Doch nicht nur Geburt und Taufe, auch die Jugendjahre Gregors bleiben weitgehend im Dunkeln.
1578 erfolgt seine Immatrikulation an der Universität Ingolstadt als „artium studiosus“. In seiner Studienzeit wird der junge Gregor sicherlich von den religiösen und künstlerischen Bestrebungen der in Ingolstadt tätigen Jesuiten nicht unbeeinflußt geblieben sein. Besonders aber dürfte durch Einflüsse der hier existierenden marianischen Studentenkongregation schon der Grundstein für die später noch so stark vorhandene schwärmerisch mystische Marienverehrung des Komponisten gelegt worden [4/5] sein. Aber auch ein anderes Ereignis war für die weitere Entwicklung gerade des Musikers Aichinger von höchster Bedeutung: Während seines Studiums lernte er Jakob Fugger, mit dem ihn zeitlebens eine enge Freundschaft verband, und dessen Brüder kennen. Diese Kontakte schlugen sich schon bald in der Musikerkarriere des jungen Gregor nieder: 1584 beruft ihn Jakob Fugger der ältere nach Augsburg als Organist an der soeben fertiggestellten (und von Fugger finanzierten) Orgel der Kirche St. Ulrich. Aichinger dürfte hier jedoch nicht lange verweilt haben, denn schon bald, noch vor 1590, wird ihm durch seinen Gönner eine Studienreise nach Venedig ermöglicht.
Während Hans Leo Haßler etwa zur gleichen Zeit bei Andrea Gabrieli studiert, kann sich Aichinger im Vorwort seiner Sacrae Cantiones von 1590, die er Jakob Fugger dem älteren widmet, rühmen, Schüler Giovanni Gabrielis gewesen zu sein. Von diesem Zeitpunkt an finden sich in Aichingers Schaffen immer wieder mehrchörige Kirchenwerke in der sogenannten „Cori spezzati“-Manier der dafür so berühmten venezianischen Schule. Im Anschluß an seinen Aufenthalt in Venedig verweilt Aichinger noch einige Zeit in Rom. Hier ist er stark beeindruckt vom Stil der römischen Canzonette des Kreises um Giovanni Maria Nanino und komponiert wohl unter diesem Einfluß die Werke seiner Tricinia Mariana.
Kaum nach Augsburg zurückgekehrt, wird Aichinger von seinem Auftraggeber Fugger schon wieder befreit, um sich am 21. Juli 1588 an der Universität Ingolstadt für Philosophie und Theologie zu immatrikulieren. Erfolgt hier schon die Reifung des Entschlusses, in den Priesterstand einzutreten? Dies ist nicht endgültig zu klären. Doch finden in Aichingers nächster Umgebung und auch bei ihm selbst Veränderungen statt, die eine solche Entscheidung nicht unbegründet erscheinen ließen:
1592 feiert Aichingers Jugendfreund Jakob Fugger sein erstes Meßopfer in der Jesuitenkirche zu Augsburg. Aichinger beibt davon nicht unbeeindruckt. Zudem wendet er sich immer mehr geistlichen Inhalten zu: Nachdem er 1597 neben Haßler als einziger deutscher Meister in der italienischen Madrigalsammlung des Nürnberger Verlegers Paul Kauffmann mit zwei fünfstimmigen Madrigalen vertreten ist, endet bis auf ein späteres Gelegenheitswerk zu diesem Zeitpunkt Aichingers gesamtes weltliches Schaffen. Dies ist jedoch nicht die Folge einer ungenügenden Überlieferungslage, sondern Aichinger wendet sich – nach eigenen Aussagen in den Vorworten seiner Sammlungen – nun von den „mollities profanae“ (den profanen Vergnügungen) ab und ganz der „musica sacra“ zu.
Im Jahre 1598 erlebt Aichinger zwei für seinen Lebensgang einschneidende Ereignisse. Am 7. Februar 1598 stirbt sein Auftraggeber Jakob Fugger der ältere. Im gleichen Jahr noch am 13. Juni wird Heinrich V. von Knöringen Fürstbischof von Augsburg. Da Aichinger schon seit 1597 nähere Beziehungen zum Domkapitel hatte, dürfte er in gewisser Weise im Einflußbereich von Knöringens gestanden haben und war wohl von dessen starkem Reformeifer sehr beeindruckt. Andererseits erkannte von Knöringen wohl die kontemplativen Neigungen des Komponisten, und die Vermutung liegt nahe, daß er ihn zum Eintritt in den geistlichen Stand bewegte. Vielleicht reifte der Entschluß bei Aichinger ja auf seiner zweiten Italienreise. Spätestens im [5/6] Dezember 1598 ist seine Anwesenheit in Rom wieder bezeugt. Zudem finden wir in Notizen des Meisters Vermerke über einen nochmaligen Aufenthalt in Venedig im Dezember 1600. Ob Aichinger in der Zwischenzeit in Rom verweilte, vielleicht sogar das heilige Jahr über, ist nicht zu beantworten. Jedenfalls ist Gregor Aichinger spätestens im Jahr 1602 zum Priester geweiht: In den Vorworten seiner Sammlungen Divinae Laudes (1602) und Liturgica sive sacra officia (1603) trägt er jeweils vor seinem Namen den Titel „Reverendus Dominus“. 1605 erhält er, inzwischen als Domvikar, die Stiftspfründe St. Maria Magdalena, später noch weitere Pfründe. Solchermaßen abgesichert, kann er sich nun vollkommen auf seine musikalische Produktion konzentrieren. Zwischen 1603 und 1609 entstehen nicht weniger als 14 umfangreiche Sammlungen. 1607 leistet der Komponist auf dem Gebiet der neuen aus Italien kommenden Musizierweise Pionierarbeit, wenn er in der Einleitung seiner Cantiones ecclesiasticae die erste deutsche Einführung in das Generalbaßspiel überhaupt gibt. In diesen Jahren wird die Anwendung des Generalbasses in Aichingers Werken zur Regel und ist auch noch in seinen Spätwerken wie etwa Quercus Dodonea, einer Sammlung geistlicher Konzerte von 1619, oder in den geistlichen Konzerten der Corolla eucharistica von 1621 zu finden. In der Nacht vom 20. zum 21. Januar 1628 stirbt Gregor Aichinger im Alter von 64 Jahren.
Aichingers Werk umfaßt in seiner Gesamtheit nahezu alle Stilmerkmale seiner Zeit, einer Zeit des Übergangs von der Renaissance zum Barock, die sich in einer Wende weg von der alten streng kirchentonal gefaßten (Vokal)-Polyphonie hin zur modernen Form des monodischen Musizierens mit reicher Ornamentik und starken musikrhetorischen Mitteln ausdrückte. Diesen Neuerungen steht der Komponist Aichinger offen gegenüber, ja im Bezug auf die Generalbaßpraxis spielt er in der deutschen Musiklandschaft seiner Zeit eine Vorreiterrolle und ist mit den geistlichen Konzerten seiner letzten Schaffensphase wohl mit ein Wegbereiter der geistlichen Konzerte von Heinrich Schütz.
Bedauernswerterweise haftet gerade den Werken Aichingers im neueren Stil eine Sphäre von Innovation an, die eine Erkenntnis des wahren musikalischen Gehalts dieser Kompositionen zum Teil verdeckt. Darüber aber die Beschäftigung mit den Werken aus der ersten Hälfte der Schaffenszeit des Meisters zu vergessen, würde einen enormen Verlust bedeuten, beinhaltet doch gerade die Musik aus dieser Periode Aichingers ein faszinierendes Nebeneinander von Alt und Neu: Elemente der alten Vokalpolyphonie mischen sich mit Mitteln der modernen Musizierweise aus der Umgebung des Komponisten. Zu erkennen ist dies zum Beispiel an einigen Werken aus den Liturgica sive sacra officia, einer Sammlung von Motetten und Messen (1603 in Augsburg gedruckt von Johannes Praetorius), deren Stimmbücher sich heute wie die Orginaldrucke zahlreicher anderer Werke Aichingers in der Regensburger Proskebibliothek befinden.
Sowohl die Missa de Beata Virgine, eine Messe zu Ehren Marias als auch ein Großteil der Motetten Aichingers (Ecce virgo concipiet, Beata viscera, Regina coeli, Alleluia 7. Modus und Alleluia V Assumpta est) hinterlassen schon bei einer ersten Begegnung einen eigenartigen Eindruck: Sie wirken einerseits in ihrer Klanglichkeit sehr ausgewogen und durchaus dicht komponiert, zugleich in der teils reich verzierten Gestaltung der Einzelstimmen von äußerst moderner Prägung, andererseits wohnen all diesen Kompositionen immer wieder durchscheinende archaische [6/7] Züge inne. Diese rühren von Aichingers Einbindung des gregorianischen Chorals her. So sind Motetten wie Ecce virgo concipiet, Beata viscera und die beiden Alleluia-Vertonungen in dieser von der alten Cantus-firmus-Motette her kommenden Technik gestaltet, oft mit der Choralmelodie in der Baßstimme (was auf die sehr alte Form der Tenormotette hinweist), eine andere Motette über das Alleluia im 7. Modus aber mit dem Choral in der Tenorstimme. Nur leicht von einer Choralvorlage beeinflußt entwickelt sich dagegen die Motette Regina coeli, und gerade im ersten eher homophon gehaltenen Teil dieses Stücks scheint in den akkordisch-rhythmischen Zügen deutlich die Welt des zu dieser Zeit noch immer blühenden italienischen Madrigals durch.
Geradezu gegenläufig zu allen zeitgemäßen Elementen in Aichingers Werken muß es da wirken, wenn die Missa de Beata Virgine auf alte Choralvorlagen zurückgreift, deren Melodien immer wieder in den einzelnen Stimmen nachgezeichnet werden. Sehr drastisch wird der Rückgriff auf alte Traditionen im Gloria der Messe deutlich, wenn hier dem mehrstimmigen Satz eine einstimmige Gloriamelodie mit dem Tropus Spiritus et alme orphanorum, also einem eingeschobenen Zusatz, zugrundeliegt. Diese Melodie mit ihrem Tropus wurde lange Zeit an vielen Orten in den liturgischen Riten gepflegt. Jedoch verbot das Konzil von Trient in seinen kirchenmusikalischen Reformen den Gebrauch solcher Tropen und nennt dabei sogar ausdrücklich den von Aichinger verwendeten. Eine Begründung für sein Verfahren gibt Aichinger im Vorwort zu seinen Liturgica, wenn er schreibt, all diese Melodien und Texte schmeckten nach einem zwar alten, jedoch ehrwürdigen Jahrhundert („Sapiunt omnia priscum quidem, sed pium seculum“) und desweiteren sei nicht alles, was neu ist, deshalb schon zu billigen, ebensowenig wie alles, was alt sei, verurteilt werden müsse („... non quicquid novum, hoc probandum, nec quicquid desitum, condemnandum“).
Liest man die zuletzt angeführten Worte Aichingers nicht nur im Sinne einer Rechtfertigung des Komponisten für die Verwendung von Melodien alten Stils in seinen Werken, sondern sieht sie auch in allgemeinerer Bedeutung als Ausdruck seiner Haltung dem Althergebrachten und den Neuerungen seiner Zeit gegenüber, so ist ein sehr bewußter Umgang mit Traditionellem und Modernem zu erkennen, der sich nie mit dem ersten flüchtigen Eindruck begnügt, sondern immer nach der jeweiligen musikalischen Qualität vergangener, gegenwärtiger oder auch kommender Stilmittel fragt. Nur so kann es, wie im abschließenden Beispiel des Gloria-Tropus aus der Missa de Beata Virgine zu ersehen, in der Komposition zu einer genialen Vermischung des ‚Altehrwürdigen‘ einer vom Choral geprägten Melodie oder eines Abschnittes strikt polyphoner Prägung mit dem Modernen einer eher madrigalesk geprägten Passage oder einer reich verzierten Melodieführung kommen. In jedem Falle aber sprechen schon die Werke der ersten Hälfte seines kompositorischen Lebenswerkes dafür, den in Regensburg geborenen Komponisten Gregor Aichinger in die Reihe der großen musikalischen Persönlichkeiten seiner Zeit aufzunehmen.
CD-Tip: Werke von Gregor Aichinger und Francesco Suriano; Regensburger Vokalsolisten, Ltg. Josef Kohlhäufl; Melisma 7194-2